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Brillen, Drogen, zoomorphe Träume

■ Der Dichter Durs Grünbein über David Cronenbergs Film „Naked Lunch“

Wie lange ist es her, daß mir im Bad die Gabel mit dem eingehängten Duschkopf als das Geweih eines Hirschkäfers erschien? Daß ich im Fußabtreter mit den aufgestellten Borsten den Rücken einer riesigen Buckelzirpe erblickte? Ameise, Tausendfüßler, Stubenfliege, Küchenschabe, all die so zahlreichen Insekten, die uns neben Vögeln und kleinen Säugetieren auch in den großen Städten noch umgeben, in wie vielen Gegenständen, Materialien, Körperausschnitten, zerstreut zwischen zwei Augenblicken oder im Streß, im Rausch und im Vorübergehen, halluzinieren wir sie täglich? Oder werden von den fixen Alptraumresten nur Verrückte und Künstler heimgesucht? Zoomorphe Phantasien, scheint es, sind das Los der Kurzsichtigen. Nur ihnen, gebunden an den Nahbereich, verschiebt sich alles Stoffliche bedrohlich zu tierhaften Formen. Sollte dahinter nichts als der gute alte Blake- Poe-Lautréamont-Freud-Kafka--Assoziationsstrom fließen? Weh dem, der Symbole sieht.

„Heb dir die Psychoanalyse für deine Grashüpferfreunde auf...“, heißt es dazu lakonisch in einem Film, in dem Insekten gleichberechtigt neben Filmstars agieren. Gemeint ist Naked Lunch von David Cronenberg nach dem Skandalbuch von William Burroughs, einem Werk, das seine eigne Gattung wurde, gemischt aus Traumsequenzen, bösen Sketchen, autobiographischen Fragmenten, Endzeitvisionen à la T.S. Eliot, geschrieben nach dem Vorbild von F. Célines affektivem Prosastil der „emotionalen Ultra- Präzision“.

Voilà, hier haben wir das Produkt einer Fusion zweier Künstler, für die das Brilletragen Folgen hatte. Schriftsteller der eine, kurzsichtig bis zur absoluten Introspektion (und geheimdienstreifen Konspiration), Filmemacher der andere, einer der Meister des Achtziger-Jahre-Kinos, der wie David Lynch seine Handlungen um den Makrobereich konzentriert. Aller Horror steckt im Detail, lautet ihr Credo. Der Blick fällt auf die Furchtzentren des Unbewußten. Kreativität, Homosexualität, Rausch, Tod, die körperlichen Höllen, Auflösung des Ich, alles wird in archetypische Bilder und Allegorien übersetzt. Das Prinzip ist so alt wie Hieronymus Boschs überdimensionale Krüge und Dudelsäcke, seine Messer und Schlittschuhe. Das Begehren eines schwulen Werbers, hier heißt es „Papageien ansehen“. Der Prozeß des Schreibens, die furchtbare Einsamkeit vor der kalten Tastatur, wird zur Metapher vom „abgezapften Samen“. Ein Röhrchen voll mit Wanzenpulver (alias Pyrethrum, einem Rauschmittel) ist das „Ticket in die Interzone“. Die zerstörte, im Ringen um die subreale Eingebung in einen quasselnden Käfer verwandelte Schreibmaschine wird buchstäblich im Feuer umgeschmiedet. Das Zentrum schwuler Leidenschaft, die rosige Analöffnung mit dem Schließmuskel, ist unter schwarzen Flügeldecken ein Käfermund. Gleichzeitig ist er aber auch das Einstiegsloch in die Räume der Imagination wie in David Lynchs Blue Velvet das menschliche Ohr. Und nichts anderes bedeutet das Einschußloch in der Stirn der unglücklichen Joan Burroughs. Eine der Figuren im Film, ein Double des jungen Allen Ginsberg, spricht feierlich vom „Penetrationspunkt“. Metamorphosen im Ovidschen Sinne, Neuordnungen von Raum und Zeit in der anderen Raumzeit des Unbewußten... „Alte Tricks für neue Technologien“ wie es im Film einmal beziehungsvoll heißt. Die kollektive Droge, nach der die Körper in der Interzone unterwegs sind, ist das „Schwarze Fleisch“ des Riesentausendfüßlers. Und Interzone selbst ist jenes mythisch-halluzinogene Urreich, eine Zone der Telepathie, ein von Dämonen, Lesben, Polizisten, Händlern bevölkertes böses Paradies, in dem es nie Erfüllung, nur die reine Sucht gibt, ein Ort wie Tanger in Marokko oder any other „Waste Land“.

Doch zurück zu Cronenberg und seiner Fiktion einer Fiktion. Wie in früheren Filmen (Scanners 1981; Die Fliege 1986; Die Unzertrennlichen 1988) kreist die Arbeit um ein zentrales Thema. War Scanners eine Studie zur „operation mindfuck“, eines der CIA würdigen Programms zur telepathischen Beherrschbarkeit und Steuerung des Individuums durch Stimmen, beschäftigte sich The Fly mit computergesteuerter De- und Rekonstruktion von genetischem Material (in einer an Kafkas Verwandlung erinnernden Fabel). War Dead Ringers (Die Unzertrennlichen) die Geschichte vom komplementären Körper eines Zwillingspaares (der Vergleich mit Greenaways Evolutionsfarce Ein Zund zwei Nullen wäre sicher ergiebig), so geht es in Naked Lunch nach Cronenbergs Angaben um das „Schreiben gefährlicher und komplexer Dinge“. Der Witz ist, daß von diesem Thema schätzungsweise 0,1 Prozent des Publikums berührt sein dürfte. Oder in den unsterblichen Worten eines guten Freundes: „Das interessiert mich wie die letzten Wasserstandsmeldungen an der Elbe.“ Die Pointe aber ist, daß es zuletzt, nimmt man Schopenhauers Lehre von der Welt als Wille und Vorstellung ernst, fast alle angeht. Leider reicht der Raum nicht aus, um diese kühne These zu begründen...

Dennoch frage ich mich, was der Film Nicht-Lesern bedeuten könnte, und finde keine Antwort. Denn dieser Film ist ein Kassiber, geschmuggelt aus dem großen Sinngefängnis, der rationalen „corporate identity“ dieser entzauberten Welt. Er handelt, wenn das Wort Handlung hier noch Sinn hat, von künstlerischer Paranoia, von Homosexualität als Tarnung, vom Schreiben als Spionageauftrag zur Erkundung des Subrealen und von der Opferung der Frau. Er handelt vom Kampf der Schreibmaschinen (Clark Nova contra Martinelli), die sich wie zornige Insekten bekriegen. Ernst Jüngers Einsicht von der Zoologisierung der Technik im 20. Jahrhundert findet sich darin ebenso wie die Geisterlehre von personifizierten Innenstimmen, die in den Köprer eindringen und ihn mit grausamen Befehlen unter Kontrolle bringen. Nach dem Motiv zum Mord an seiner Frau befragt, gibt Burroughs an, vom „ugly spirit“ besessen gewesen zu sein. Denn es gibt keine Unfälle, und das Dämonische erklärt sich selbst als Schatten, der seinen Körper überallhin begleitet. Nicht zufällig hatte der Kultautor unter Freunden damals schon Spitznamen wie „walking corpse“ oder „hombre invisible“. Gefühl wird in seiner Prosa reduziert zu etwas, das sich in den Stielaugen einer Garnele wiederfinden ließe. Das Verfahren, kultiviert auf mehreren Reisen ins „Herz der Finsternis“, nach 15 Jahren als promovierter Junkie, der sich durch sämtliche exotischen Drogen dieser Welt probiert, besteht in der radikalen Übersetzung von Erlebnissen in Bilder, die einer neuen Alchemie gehorchend, ineinander übergehen, sich kommentarlos überblenden und gegenseitig neu beleuchten. Ihre einzige Quelle ist das überreizte Gehirn, das in kalten Rausch versetzte Zentralorgan eines Autors, der alles auf einmal ist, inspirierter Dichter, Mediziner, Bildingenieur, Schnittmeister, Tiefenpsychologe, Mythenkenner. Die geistige Verfassung eines solchen Autors, darauf wird Wert gelegt, kann nur die professionelle des Experten sein. Seine Instrumente heißen Schreibmaschine, Spritze und Revolver.

In David Cronenbergs Film ist Burroughs immer dann anwesend, wenn die Bilder ihre eigene, unhintergehbare Sprache sprechen. Er ist der Gewährsmann, der den Traum vom Großen Pan („God of panic“) lange nach Horaz' trauriger Todesbotschaft lebendig hält, indem er sämtliche Motive einer sensitiven Bildwelt in seinem Nervenprisma bricht. Sodomie mit exotischen Tieren, Herstellung von Rauschmitteln aus den Körpersäften grauenhafter Insekten, raffinierte Tötungstechniken und archaische Sexpraktiken... „nichts ist wahr, alles ist möglich“. In der Jujuka-Musik marokkanischer Flöten hört er das süße Jaulen aus der Zeitentiefe bis zurück zu Orpheus. In einer Eidechse, einem Leguan sieht er die bukolische Laszivität sonnengebräunter Knabenkörper. Der zuckende Mund einer Frau erzählt ihm vom biographischen Abgrund.

Im Film findet sich all das immer nur in dezenten Andeutungen, im staunenden Blick des Helden, in der unnahbaren Fremdheit der Details, den Verzögerungen im Rhythmus, die der versetzten Wahrnehmung des Halluzinierten entspricht. Viele der Gesten, mimischen Verzerrungen, mehrdeutigen Gebärden der Akteure wirken wie hinter Glas betrachtet. Allein im Schauspielstil ist dieser Film erstaunlich. Wie in allen späteren Arbeiten Cronenbergs tritt das Monströse auf leisen Sohlen, wie selbstverständlich, ins Bild. Zwischen dieser Technik der Präzision, der farblichen Auskältung, einer durch und durch elliptischen Erzählführung und den traditionellen Schockmitteln des Horrorfilms liegen Welten. Wenn irgendwo, dann beherrscht hier die lange gesuchte subliminale Wirkungsästhetik den Bildaufbau. Das dekonstruktivistische Puzzle braucht den Betrachter als Komplizen der Dechiffrierung.

Der Film ist gerade darin so respektvoll, daß er den fixen Ideen Burroughs' erst in gebührendm Abstand folgt. „Alle Agenten laufen über, alle Widerstandskämpfer begehen Verrat“, lautet eine. Eine andere, die so zentral ist, daß Cronenberg sie doppelt vorführt und mit ihr den ganzen Film verklammert, läßt sich geradezu als das „Burroughs- Theorem“ bezeichnen. Gemeint ist die Tötung seiner Frau Joan, die Überwindung des weiblichen Prinzips, die sich nachträglich als der Beginn seiner Schriftstellerkarriere herausstellt. Erst nachdem der Autor seine Frau erschossen hatte (ob aus Versehen im Suff oder als letzten Liebesdienst, als Sterbehilfe, bleibt offen), ging er für längere Zeit nach Nordafrika und begann dort sein Hauptwerk, das ihm später zum Durchbruch verhalf. „Das ganze Konzept der Frau ist ein biologischer Fehler... ein Hindernis auf dem Weg in die Unsterblichkeit...“, schreibt er im Vorwort eines Interviewbands seines Freundes Brion Gysin, und schiebt wohlweislich die dubiose These diesem zu. Im Film ist die Tötung Aufbruchsignal für seinen Irrweg erst durch die verschachtelten Interieurs von Interzone, später die Einreiseerlaubnis für eine Gegend namens Annexia, eine Art Phantasie- Sibirien mit Tundralandschaft und Zollbeamten in Pelzmütze. Wo Cronenbergs Abweichung beginnt, kann man am besten an dieser Szene studieren. Daß er sie überhaupt in die psychodelische Welt von Naked Lunch einbezieht, daß er sie wiederholen läßt, daß er die „Wilhelm-Tell- Nummer“ filmogen mit dem Revolver, statt wie in Wirklichkeit mit der „380er Schrottbüchse“ inszeniert und daß er schließlich dem Opfer selbst ein Double in Gestalt der Joan Frost (Jane Bowles) zugesellt, all das sind Linien, in denen das Drehbuch vom Original wegführt. In seinem Film erscheint nun gerade die Frau als das große Furchtzentrum. Sie ist die wunde Stelle im geschlossnen Weltbild. Sie gibt dem Helden Rätsel auf, indem sie die Berichte fälscht, verführt und ihrerseits verführt wird von einer ominösen Haushälterin, die zum Drogenkartell von Interzone gehört. Mit bösem Zauber... Schamhaar, Blut und Fingernägel im Blumentopf... verstrickt sie Joan in eine lesbische Beziehung. Auch wenn sich dann herausstellt, daß hinter allem als „Supervisor“ die Figur des Dr. Benway steckt, eine Tiresias- Karikatur, die mit dem Sperma seltsamer Fabelwesen, der „mugwumps“, handelt und damit ganz Interzone kontrolliert. Als Arzt und Pharmazeut steht Dr. Benway bei Burroughs für das Kontrollprinzip schlechthin. Er könnte jener deutsche Organspezialist mit der Idee von einer technologischen Medizin sein, den Burroughs einst in Tanger kennenlernte.

Doch auch in den Nebenfiguren ordnet Cronenberg den Stoff neu. Mit der Einflechtung des Schriftstellerehepaars Frost (Jane und Paul Bowles) und der Dichterfreunde Hank und Martin (Jack Kerouac und Allen Ginsberg) konzentriert er das wenige halbreale Geschehen auf den Schreibakt selbst. Hier liegt das Wagnis des Films, seine Freiheit gegenüber einem großen Publikum. Einmal werden so wichtige Arbeitsprobleme erörtert, wie ob das Um- und Neuschreiben eine Art von Zensur sei. Ein andermal treten die legendären Beatniks als Begleiter der süchtigen Joan auf. Während Hank im Drogenrausch die Frau seines Freundes fickt, rezitiert Martin Zeilen aus dem hymnischen Poem Howl. Und immer sind die flinken Musensöhne für William Lee (alias W. Burroughs) zur Stelle, ob als literarische Kumpane, Geldboten in Interzone oder als schnelle sexuelle Ambulanz. Erzählt wird so von einer Dauerfreundschaft, die im Realen längst mystische Züge angenommen hat. In zahlreichen Widmungsgedichten, biographischen Anspielungen und Epitaphen halten sich die alten Beat- Companions bis zum heutigen Tag die Treue, respektiert von einer großen Fangemeinde.

Einig sind Cronenberg und Burroughs sich in ihrer Vorliebe für Insektenmetaphern. „Insekten sind faszinierende Studienobjekte“, sagte der Regisseur kürzlich in einem Interview. „Sie zu beobachten ist eine Art Meditation. Man begreift, wie das menschliche Wesen ist.“ Gelungen ist ihm in diesem Film die konsequente Übersetzung geschlechtlicher Urängste und sexueller Ambivalenzen in zoomorphe Phantasien. Der zappelnde Riesenskorpion, der sich zwischen die Körper von William Lee und Joan Frost drängt und auf das Peitschenknallen einer Domina davonhetzt, der nette Schreibmaschinenkäfer, dessen Anus-Mund (ein Medium für Wort, Kontrolle, Angstlust) Lee mit Wanzenpulver stimulieren soll, die zerbrechlichen, reptilienhaften „mugwumps“, an ihren Sirupcocktails saugend... wie C.G. Jungsche Archetypen geistern sie durch die Szenen.

Dreißig Jahre später ist von den einstigen Exzessen als Bodensatz der abgründige Humor geblieben. Durch den Film schleicht ein verstörter William Lee, paranoider Geheimagent und Autor in der Krise. Der originale Burroughs heute ist, wie Howard Brooks Dokumentarfilm gezeigt hat, ein komischer alter Kauz, der oft fidel vor sich hinsummt, ein stöckchenschwingender Dandy, der genauso unauffällig durch dieses Realitätsstudio spaziert wie irgendein kurzsichtiger Börsenmakler draußen an der Wallstreet.

Wie konkret er die einstigen Sprachexperimente verstanden wissen will, demonstriert eine Anekdote. Der Autor präsentiert in seinem New Yorker Wohnbunker seine Waffensammlung und führt stolz einen Totschläger mit eingebauter Rasierklinge vor. Ein einziger Streich über die Kehle des Gegners genüge, sagt Burroughs, und man könne ihm das Leben abschneiden, womöglich mitten im Satz.

Durs Grünbein, Jahrgang 1962, lebt in Berlin. Zuletzt erschien „Schädelbasislektion“ (Gedichte) im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main.

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