Pullmoll — oder die Rettung des Kulturguts Lesen

■ Seit vier Jahren pflegt das »Lesestudio« jede Woche sein Konzept »Lebendiges Lesen«

Im Grunde genommen handelt es sich beim Vorlesen, seien wir so ehrlich wie Ernst Jandl, um nichts weiter als ein Öffnen und Schließen des Mundes. Andere sagen, es beruhigt die Kinder, sättigt die literarisch Ausgehungerten und beschäftigt arme Schriftsteller. Kann sein. Ein Münchner Verleger hat der Stiftung Lesen in Mainz soeben den Deutschen Kulturpreis zugesprochen, für deren Leistung, »im Zeitalter der elektronischen Medien das Kulturgut Lesen zu retten«. 100.000 Mark.

Im Literaturhaus an der Fasanenstraße rackert eine Sechsergruppe seit vier Jahren Donnerstagabends am selben Rettungsfall. Dabei spielt sich regelmäßig folgendes ab: Kleine Grüppchen eingeschworener Fans rotten sich im Tucholskyraum oder im Kaminzimmer zusammen, lassen sich auf überraschend unbequemen Stühlen nieder, scharren mit den Füßen, hüsteln noch einmal prophylaktisch und sinken dann in sich zusammen. Vorne am Tisch bestrahlt die Leselampe fotokopierte Manuskripte, dahinter sitzen mal zwei, mal drei Leute und lesen. Laut, deutlich und abwechselnd. Mal emphatisch, mal zart und schmeichelnd, mal bellend, immer aber voller Enthusiasmus. Donnerstagabend, 20 Uhr: »Das Lesestudio« pflegt sein Konzept »Lebendiges Lesen«.

Ehrlich gesagt: Sie lesen schlicht und ergreifend Literatur vor. Zum Beispiel die Geschichte eines armen Schluckers aus Kenia, der nach seinem Tode zum unfreiwilligen Wahlhelfer aller Kandidaten avanciert und schließlich in einem Daimler zu Grabe getragen wird — Ein Mercedes-Begräbnis von Ngugi wa Thiong'o aus Kenia. Claus Hummel liest fast eine geschlagene Stunde, nebenan rumpelt das Literaturcafé, die Zuhörer lösen keine Sekunde den Blick von den Ornamenten der Chintz-Tapete. So was nennt man gebanntes Lauschen und einen vollen Erfolg. Selbstverständlich ist der Applaus verhalten, schließlich ist man nicht bei Joe Cocker in der Deutschlandhalle.

Eine Stunde gilt als absolute Obergrenze, längere Texte liest man nicht, höchstens gestückelt und auch damit hat die Gruppe schlechte Erfahrungen gemacht. Claus Hummel, der das »Lesestudio« vor fünf Jahren initiiert hat, immer noch als Spiritus rector und Leiter der Gruppe gilt (obwohl er selbst eine solche Rolle weit von sich weist), er rümpft bei Romanvorschlägen die Nase. Es tue ihm weh, große Texte auseinanderreißen zu müssen, sagt er, und so einigt man sich regelmäßig auf eine Handvoll kürzerer Texte, Erzählungen, Autobiographisches, Gedichte, thematisch gebündelt und in Reihen präsentiert, die sich über Monate erstrecken.

So hat man etwa an siebzehn Abenden afrikanische Literatur gelesen, elfmal türkische, fünfmal jüdische. Vor fünf Jahren las Claus Hummel im Anschluß an einen Gesprächskreis über Aids zum ersten Mal, er las damals mit einem Freund Oskar Panizzas Stück Das Liebeskonzil in Marathonsitzungen, später Anatol Fugards Master Harold und die Boys, schließlich 1988, zum Jahrestag des Hitlerattentats, Briefe und Gedichte ermordeter Widerstandskämpfer. Auf eine Annonce Hummels in den einschlägigen Stadtmagazinen meldete sich eine Handvoll Leute, die, wie sie heute versichern, allesamt immer schon das Bedürfnis verspürt hatten, anderen Leuten laut vorzulesen. Man bekam, nun als »Lesestudio«, ohne weiteres Platz im Literaturhaus. So wächst das Kulturgut Lesen.

Vierzig Seiten pro Abend, neunzig Minuten mit Pause, Eintritt frei, dazu Auswahltreffen, Probelesen, Textsuche — alles ohne Bezahlung. Das klingt nach guter, wertvoller, hehrer Kulturarbeit, aber sie machen uns nichts vor da vorne. Sie lieben ihre eigenen Stimmen, fühlen sich wohl hinter dem großen schwarzen Tisch, und man sieht es ihnen an. Der ganze Körper liest, im Rhythmus der Sprache wiegt der Kopf vor und zurück, die Hände zucken wie ein Ausrufezeichen nach oben; traurige Geschichten von Hunger und Entbehrung wabern durch den Tucholskyraum, der heiße Steppensand steht knöcheltief, schlanke Afrikanerinnen mit tiefliegenden Augen balancieren Tonkrüge voller Wasser zwischen den Stuhlreihen, und draußen auf der Fasanenstraße erscheint die Vorhut des Trauerzuges mit dem Mercedessarg.

Die Zuhörer schlucken trocken und greifen nach den Wassergläsern. Es sind nicht viele, zehn, fünfzehn, manchmal zwanzig. In den Pausen zwischen den einzelnen Texten räuspern sich alle mit Nachdruck. Der tödliche Feind eines solchen Abends ist der gemeine Hustenanfall, und Claus Hummel zieht eine Handvoll Pullmoll aus den Tiefen seiner Jackentasche. So rettet man das Kulturgut Lesen. Günther Grosser