: Hautnah am Objekt
Die Europa-Reportagen der amerikanischen Journalistin Janet Flanner aus den Jahren 1931-1950 ■ von Elke Schubert
Europa hielt den Atem an, als 1938 die Ergebnisse der Friedensverhandlungen von München bekanntgegeben wurden. Die Abtretung des Sudetenlandes an die Deutschen war der hohe Preis für einen „Frieden im Stil des Krieges“. Knapp ein Jahr dauerte die Frist für die Bewohner Europas, ein Jahr, in dem sich Hoffnung und Resignation in rascher Folge abwechselten. Auch die amerikanische Journalistin Janet Flanner, Freundin von Hemingway und Djuna Barnes, exzentrisches Mitglied der Pariser Intellektuellenszene in den 20er Jahren, starrte wie paralysiert auf die Entwicklung in Europa. Seit 1925 schrieb sie regelmäßig ihre Letters from Paris im Auftrag des 'New Yorker‘.
Flanner berichtete vor allem über kulturelle Ereignisse. Doch schon einige Jahre später sollte die Machtübernahme der Nationalsozialisten Thema und Stil ihrer Reportagen verändern. Aus der an Theater, Kunst und Literatur interessierten Autorin entwickelte sich eine politische Journalistin, die entscheidend zur Etablierung des „New Journalism“ beigetragen hat.
Schon in den dreißiger Jahren deutet sich der typische „Flanner- Touch“ an, aber noch dominieren Sarkasmus, Galgenhumor, Faszination am morbiden Charme europäischer Städte und ein Blick fürs makabre Detail: „Etwas ist bei dem sogenannten Frieden doch herausgekommen: eine fünftägige Friedensfahrt von Paris nach Köln, Godesberg, Koblenz, Frankfurt, Nürnberg, München und Berchtesgaden, die 1.175 Francs kostet. Für diese Spritztour wirbt die staatliche französische Tourismusgesellschaft. Einige Franzosen sind allerdings der Meinung, es sei sie bereits teuer genug gekommen, Herrn Chamberlain nach Berchtesgaden zu schicken...“ Die Gnadenfrist von einem Jahr wird von Flanner mit Reportagen gefüllt, deren Spannung sich noch dem heutigen Leser mitteilt.
Anläßlich des hundertsten Geburtstages der Journalistin hat der Antje-Kunstmann-Verlag eine Sammlung ihrer Reportagen herausgegeben. Paris, Germany... lautet der programmatische Titel des Buches und eine ihrer eindrucksvollsten Reportagen. Ihr geliebtes Paris ist von den Deutschen besetzt, von Barbaren, an denen sie kein gutes Haar läßt. „Paris ist jetzt die Hauptstadt der Vorhölle. Es ist eine wundervolle französische Stadt an den Ufern der Seine, über die man nun in Berlin, der Hauptstadt Deutschlands, alles weiß“, schreibt sie mit kaum unterdrückter Verbitterung. Diese Art der Mitteilung ist bezeichnend für Flanner, sie nimmt Partei, und zuweilen wird sie ungerecht. Doch gerade ihrer Parteinahme ist es zu verdanken, daß uns die damaligen Ereignisse näherrücken, so als würden wir uns selbst darin aufhalten. Flanners Berichte aus der besetzten Seine-Metropole berühren noch mehr als 50 Jahre später, weil, wie sie einmal notiert, Paris nie wieder dasselbe Paris wie vor der Besetzung sein wird. En Detail beschreibt sie den Prozeß der Demütigung, registriert, wie gut die Deutschen den Stolz der Pariser kennen, um ihn um so besser brechen zu können. „Die zweite psychologische Methode der Nazis besteht darin, die Pariser einander anzugleichen. Sie sind bestrebt, den individualistischen Franzosen auf ein gewöhnliches Maß zu reduzieren... Durch diese Politik der Gleichstellung hoffen die Deutschen, den zurückhaltenden Franzosen dahin zu bringen, daß er die Klugen oder Reichen haßt und die Nazis dafür bewundert, was sie als ihren besonderen Sinn für Gerechtigkeit bezeichnen.“
Für Flanner ist Zynismus wahrscheinlich die einzige Möglichkeit, mit einem Ohnmachtsgefühl fertigzuwerden, das sie mit den Bewohnern von Paris teilt. Was da passiert, ist nicht nur einfach schrecklich und demütigend, sondern vor allem unter Niveau. In dieser Reportage scheint die Beschreibung des kulturellen Verfalls, der vom Verbot antinazistischer Bücher bis zur Einstellung aller relevanten Tageszeitungen reicht, elementarer zu sein als Elend, Hunger und Unterdrückung. „Wie Termiten, die jahrelang hungrig eingesperrt waren, ziehen die Deutschen seit Mitte Juni durch die Pariser Läden, verleiben sich schmatzend und schlingend Wäsche, Parfüm, Bonbons, Lederwaren und hübschen Krimskrams ein...“ Nicht ohne Ironie beobachtet Flanner einen einfachen psychologischen Vorgang, den die Pariser jetzt hautnah am Objekt — dem gemeinen deutschen Soldaten — beobachten können: wie er in seiner Rolle als Eroberer plötzlich aus seinem kleinen unbedeutenden Leben tritt und sich aus dem Reichtum der eroberten Stadt bedienen kann. „Augenzeugen berichten, daß sich einige der deutschen Soldaten während ihrer ersten freien Stunden in Paris Orangen und Bananen in den Mund gesteckt hätten, ohne sie zu schälen, und auf ihre Schokolade Butter geschmiert hätten.“
Von der Besetzung Italiens weiß Flanner ähnliches zu berichten: „Rom, die große antike Metropole, ist jetzt die Hauptstadt von Deutschlands neuester Provinz, Italien.“ Obwohl sie sich 1942 nicht in Rom aufhält — drei Jahre zuvor hat sie Europa verlassen —, ist in diesem einen Satz die italienische Tragödie eingefangen. Hinzu kommt noch eine traurige Paradoxie: Da Mussolini Amerika den Krieg erklärt hat, müssen die Italiener, die, wie man heute weiß, sowieso keine verläßlichen Verbündeten in den Augen der Deutschen waren, gegen ihre eigenen zahlreichen Verwandten in den USA kämpfen. Flanner analysiert die mehr oder weniger verschlüsselten Briefe aus Italien, die in Amerika ankommen. Darin ist die Lähmung zu spüren, welche die Italiener daran hindert, gegen die Unterdrückung durch die Deutschen aufzubegehren. Jedermann sei zwar Antifaschist, einschließlich der Faschisten, lautet eine bittere Sottise, die in Rom kursiert, aber es fehlt (noch) an Konsequenz, diese Haltung in die Tat umzusetzen. Trotz des Hungers und der Not, trotz des brutalen Regiments der Deutschen ist Flanners Fazit eher optimistisch: „Der einzige Trost für Millionen nachdenklicher Italiener [...] besteht darin, daß das Volk nach zwanzig Jahren immer noch schlechte Faschisten abgibt.“
1944 ist Janet Flanner als offizielle Kriegsberichterstatterin nach Europa zurückgekehrt. Wie Klaus Blanc im Nachwort der Reportagesammlung schreibt, ist sie in vielerlei Hinsicht nicht mehr dieselbe wie fünf Jahre zuvor. Waren in ihren früheren Reportagen noch die Spekulation vorherrschend, der ironische Ton über die kulturlosen Germanen, so vertraut sie in ihren Nachkriegsartikeln auf die Kraft des Beispiels und zeigt sich voller Anteilnahme für die Bevölkerung der ehemals von den Deutschen unterdrückten Länder. Mehrmals hat sie auch Deutschland bereist, zertrümmerte Städte, in denen eine unglaubliche Armut herrscht; und trotz ihrer Abneigung ist sie um Fairneß bemüht. Fassungslos stellt sie jedoch fest, daß die Deutschen immer noch nicht begriffen haben, wem sie ihr Elend zu verdanken haben. Flanner konstatiert eine eigenartige Verstocktheit bei den Nachkriegsbewohnern Deutschlands, eine immense Verdrängung, der durch das lasche Umerziehungsprogramm der Amerikaner nicht gerade erfolgreich begegnet wird. Nein, sympathischer sind ihr die Deutschen auch nach Kriegsende nicht geworden, weinerlich sind sie und voller Selbstmitleid.
Enttäuschung auch in ihrem Bericht über den Nürnberger Prozeß. Von der öffentlichen Verurteilung der Kriegsverbrecher hat sie sich ein exemplarisches Lehrstück und die Postulierung einer neuen politischen Moral erhofft. Statt dessen deutet sich in der „Wurschtigkeit“ und in den Ungereimtheiten des Verfahrens schon an, daß auf gewisse Interessen Rücksicht genommen werden muß. „Während des Krieges hatten die Alliierten ausdrücklich drei Ziele: die deutsche Armee zu besiegen, die Nazi-Führer vor Gericht zu stellen und die Umerziehung der Deutschen. Was die Eröffnung der Nazi- Verteidigung in Nürnberg gerade bot, ist mehr als nur die Darbietung zweitklassigen Rechtstalents, es ist die absolut erstklassige Demonstration des ungebrochen deutschen Vorkriegsdenkens.“
Es waren vor allem Frauen wie Martha Gellhorn, Janet Flanner und Kay Boyle, die über das immense Ausmaß der Zerstörungen nach Kriegsende berichteten, über ein Europa in Trümmern, wie Enzensbergers Reportagensammlung heißt, in die auch einige Arbeiten Janet Flanners aufgenommen wurden. Mit einem klaren Blick für scheinbare Nebensächlichkeiten hat Janet Flanner in ihren Reportagen das ganze Elend dieses Europas eingefangen.
Janet Flanner: Paris, Germany... Reportagen aus Europa 1931-1950 . Verlag Antje Kunstmann. Nachwort von Klaus Blanc. Aus dem Amerikanischen von Angelika Felenda, mit Fotos von Werner Bischof; 234 S., geb., DM 38
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