Everyotherfuckercan

Meanwhile da wo sonst keiner hinguckt: das britische Zeitgeist-Magazin i-D  ■ Von Thomas Langhoff

Revolution! Mindestens. Kill the pope! Warum auch nicht. „Und überhaupt, what the fuck ist Mode? Was wir wollen, ist ein kleiner Bierbauch, ein mad freaky Gesicht, und wenn diese Typen in unseren Klamotten gut aussehen, dann every other fucker can.“ Sagen Gio Goi.

i-D, April 1992, einskommaneunfünf englische Pfund, Seite 24/25. Bepinkelte Klinker, spanplattenvernagelte Schaufenster, darin faustdicke Löcher, dahinter Gitter, davor ein paar Typen von nebenan, straight outta Sozialwohnung, eingekleidet von Gio Goi: Streifen sind wieder hip, schwarzweiß mit rot und grün, die Hosen zu lang und zu weit, baggy eben, obenrum pummelgepolsterte Eskimo-Nahkampfjacken mit monströsen, aufgenähten Taschen, das alles schön kurz, damit das Hemd, gestreift, oberster Knopf zu, unten raushängen kann. Als Models: vier Jungs, klassischer GB-12-Millimeter-Fransenschädelhaarschnitt, stirnfrei, blaßgesichtige britische Arbeiterklassejugend (gibt's da noch), weiß nicht so recht, wo sie hingucken soll: Ach, da ist die Kamera. Huch, zu spät. Macht nichts, Jungs, wenn ihr in den Klamotten gut ausseht, dann everyotherfuckercan.

Die Fakten. Name: i-D. Erstes Exemplar: September 1980 als querformatiges Schwarzweiß-Magazin auf Billigpapier, vier Ausgaben im Jahr, Auflage: 2000. Jetzt monatlich DINA4 hochkant, kunterbunt, Auflage: 35.000.

Was ist i-D? Nehmt 'Vogue‘, 'The Face‘, 'Spex‘, 'Life‘ und drei Exemplare eurer liebsten Schülerzeitung, werft alles in den Schlamm, kippt ein Döschen Bier drüber, dann ab in die Waschmaschine, die Schleuder auf hi energy, und schon habt ihr Euer eigenes i-D.

i-D ist ein „manual of style“. Also kein Modemagazin. i-D ist ein attitude-Magazin. i-D lehrt, die richtige Haltung zu haben. „Zeitgeist“ in seinem ursprünglichen Sinn, nicht zu verwechseln mit „Zeitgeist“ im deutschen Titten-aufs-Titelblatt- Sinn.

Der Artikel über die Modedesigner Gio Goi aus Manchester veranschaulicht die Distanz zwischen i-D und allen anderen Magazinen, die sich in Sachen poplife/fashion/ music/sex/drugs betätigen: i-D ist dreckig. Wobei „dreckig“ zu verstehen ist als Neulich-an-der-Straßenecke, eben meanwhile-da-wo- sonst-keiner-hinguckt.

i-D gibt's auch als T-Shirt. Die Aufschrift: i-D = instinctive + impulsive + individualist + daring + eclectic + nonconformist + nuclei + topical + ideosyncretic + transmutant + yakuzza + why not?

1. Instinctive und impulsive

i-D sagt: Zeig deinen Körper. Immer wieder: rohes, nacktes Fleisch. i-D- Fotografen nehmen knalliges, direktes Licht, damit auch ja nichts versteckt bleibt: blaue Oberschenkeladern unter lila Minis, blasse Fettpolster unter großlöchrigen Häkelkleidchen, schwabbelige Faltenlandschaften unter viel zu engen Streifen-Shirts, kratzige Hornhauthacken in Glittersandalen. Oder: viel zu wenig Licht in Clubland. Rhythmisierte Bildfolgen in Zeitlupe: kopulierende Nachtkörper, die an der Kamera vorbeischwimmen, keine Konturen, nur instinct and sex.

Überhaupt: das Layout. Alle klassischen Regeln außer Kraft gesetzt: vieleviele kleine Segmente, Fotos, Symbole, Überschriften unten, Unterüberschriften oben, Bildunterschriften senkrecht, Bildoberschriften hochkant, Credits fett, Slogans dünn. Die Fotos in unterschiedlicher Colorierung. Das alles keineswegs beliebig durcheinandergeworfen, sondern systematisch chaotisiert. Das Auge bleibt in Bewegung und muß immer wieder Halt suchen.

Oder: eine einzige Nahaufnahme, gedehnt über eine Doppelseite. Das Auge irrt umher zwischen Farbfeldern und verselbständigten Formen.

Alle Fotos zeigen zuallererst, daß sie inszeniert sind: kein Naturalismus, sondern Hyperrealismus. Deshalb auch die direkten Auge-in-Auge-Posen: i-D-Models stehen dem Betrachter frontal gegenüber, sie bedienen nicht, sie fordern heraus. Diese Posen erlauben keine lauwarme Laszivität, Modell Rock- hoch-unter-Palmen-aber-anfassen- darfst-du-mich-erst-wenn's-dunkel- ist. i-D-Models sind STRAIGHT, viel zu real, viel zu dokumentarisch, viel zu WIRKLICH zum Anfassen.

2. Individualist

i-D sagt: du bist der/die Größte. Mindestens. i-D bringt deshalb Informationen über jetztundhier. Damit du dir aussuchen kannst, in welche Verpackung du dein Ego steckst. Und du bist gemeint: egal ob du Geld hast oder nicht. „Newcastle, the tube“ oder „At the gate“ steht unter den Fotos unscheinbarer Straßenmodels. Und: „Simone trägt ein T-Shirt von Marks and Spencer, eine Halskette vom Portobello Market und eine Rosenkranz-Kette (gefunden).“ Wenn du Geld hast: pink Lederbody by Whitaker Malem (800 Pfund).

Außer Mode: kluge Artikel über wichtige Filme, wichtige Musik, wichtige Schriftzeichen und wichtige Ideen. Das Durchschnittsalter der i-D-Kundschaft: 18 bis 24 Jahre. In GB kein Problem, sie mit Jamesons „Kulturkritik des späten Kapitalismus“ oder „mit diesem ganzen Haufen französischer Hip-Theoretiker“ (na, wer wohl?) bekannt zu machen.

3. Daring

i-D sagt: Sei pervers. Auf der einen Seite Werbung für Thierry Mugler. Auf der nächsten Seite: „Für den Preis einer Lederjacke von Thierry Mugler kann man 3.600 indische Kinder gegen Diphtherie impfen.“ Das ist keine pädagogische Handlungsanweisung, das ist das Offenlegen von Zusammenhängen. i-D sagt nicht „mache dies“ oder „mache das“. i-D sagt: Entscheide dich.

In der „Think positive“-Aids- Ausgabe findet sich ein kleines Büblein, Modell Liebling-aller-Mütter- aller-Welten, mit einem Kondom in der Hand. Auf seinem Nachthemd steht: I AM THE MESSIAH. Eine Antwort auf die Frage „Was gegen Aids machen?“: KILL THE POPE.

4. Eclectic und non-conformist

i-D sagt: DIY — do it yourself. Sammle und kombiniere. „Sich ankleiden ist nichts weniger, als das Mobiliar seines Geistes sichtbar machen.“ Schrieb jemand, dessen Namen ich mir nur unleserlich notiert habe. i-D protegiert keine massiven Modetrends und propagiert keinen Geschmacksstalinismus. Individuelle Klamotten für das individuelle Kopfmobiliar. „Sarah trägt einen Pullover für 10 Pfund 99 von Littlewoods (gekocht und bis zum Knitterlook geschleudert).“ Was mit T-Shirts machen? Nach der Wäsche im Ofen backen.

Trends, sobald sie als solche erkannt sind, müssen sich sogleich gegen Anti-Trends zur Wehr setzen: Arbeitskleidung gegen sportives Up- Dressing, Plateau-Turnschuhe gegen Nike. i-D betreibt konsequente Tribalisierung: viele kleine Moden für viele kleine Stämme.

5. Nuclei und topical

i-D sagt: Guck dir die Fakten an. i-D, April 1992: „Squat Power“ — ein Artikel über Hausbesetzer. Und: „Time to act“ — über Rassismus in Europa. Und: „Keep Britain tidy - Just say No“. Schwarzer Hintergrund, großformatige Fotografien: weißer BH von Galliano, schwarzer Plastikmantel von Collona, verknitterter Papierumhang von Comme des Garcons. Vor den herausfordernd dreinschauenden Models laute Slogans: TOO BLACK, TOO STRONG. UNITY = STRENGTH. THE ONLY GOOD NAZI IS A DEAD NAZI. PRIDE NOT PREJUDICE.

'Tempo‘ liefert in seiner April- Ausgabe den passenden Vergleich zwischen den Nichtigkeiten deutscher Zeitgeist-Journalisten und dem fashion activism von i-D. Die neuesten Nazi-Modetrends laut 'Tempo‘: weiße Stoffhose von Armani für den „Yuppie-Nazi“, Bomberjacke in Tarnfarben für den „Rechtsrocker“. Es posieren sauber getrimmte Knaben in sauber gestylten Klamotten in sauber zentrierten Einstellungen. Unten drunter sauberes Infotainment, sauber layoutet und sauber getextet. Echt sauber.

i-D hält Mode und Politik auseinander. i-D sagt: Das bist du — und das ist deine Welt. 'Tempo‘ hingegen politisiert Mode und ästhetisiert Politik: beides dumm. Der Lärm der nur scheinbar offensiven und bemüht agressiven 'Tempo‘-Agitationen übertönt nie das plump moralisierende Gequengel im Hintergrund. Was haben wir denn heute wieder gelernt? Hitler war ein Nazi.

i-D kennt keine Moral, i-D kennt nur pragmatische Lösungen für pragmatische Probleme: UNITY = STRENGTH. Politics mit kleinem „p“: die Revolution bist du.

6. Idiosyncretic und transmutant

i-D sagt: Verändere dich, bewege Dich. i-D stellt provisorische Identitäten und provisorische Standpunkte vor, die stets mit einem ansonsten dem Ewigen vorbehaltenen Nachdruck verteidigt werden. i-D lebt im Polaroid-Augenblick. Transmutant sind auch die in Schreibmaschinenschrift eingestanzten Inserts: Dies ist nur ein Manuskript, noch nicht fertig. Und bevor wir fertig sind, haben wir schon neue Ideen.

7. Yakuzza

Yakuzza war mein Interview mit Terry Jones, i-D-Chefredakteur. Ich: Warum sollte ich i-D lesen? Er: Hmmm. Darauf weiß ich keine Antwort. Ich: Warum lesen denn eure Leser i-D? Er: Hmmm. Jesus Christ! Keine Ahnung. Ich: Warum, wenn überhaupt, ist Mode WICHTIG? Er: Hmmm. Wenn du willst, daß Mode wichtig ist, dann ist sie wichtig. Wenn du nicht willst, daß sie wichtig ist, dann ist sie nicht wichtig. Ich: Hmmm. Und wieso kommen welche Fotos ins Heft? Ich meine: Was sind eure ästhetischen Kriterien? Er: Wenn's gut aussieht, kommt's rein. Ich: Aaah. Versteht ihr euch als Werbemagazin für Mode? Er: Wir machen keinen Konsumservice, wir machen Ideenservice. Die Leute sollen das alles nicht so ernst nehmen, das Magazin dieses Monats ist das Toilettenpapier des nächsten Monats. Ich: ???. Die Japaner haben jetzt eine i-D-Lizenz gekauft. Wie sieht's mit Exporten nach Osteuropa aus? Er: Wir haben darüber nachgedacht. Aber wir finden es nicht anständig, ein Magazin für wahrscheinlich fünf Pfund oder mehr in Rußland zu verkaufen, wenn die Leute da nicht genug zu essen haben.

8. Why Not

Es gibt keinen Grund, i-D nicht zu kaufen. Wo? In allen größeren Bahnhofsbuchhandlungen und am Flughafen.