: Lucy Jeffersons Vermächtnis
■ Eine schwarze US-amerikanische Familie erzählt von sich; Auszug aus Studs Terkels neuem Buch „Race“
Lucy Jefferson
Wir schreiben das Jahr 1965, einige Monate nach dem Selma-Montgomery-Marsch
„Als ich aus Mississippi hierherkam, war ich so jung und dumm. Aber ich war freier, verstehen Sie? Ich hatte ein bißchen mehr Spielraum als heute. Ich glaube, der weiße Mann hatte damals noch nicht so viel Angst. Dazu waren wir nicht genug. Heute sind wir zu viele. Ich glaube, das hat ihm Angst gemacht. Damals hat einen niemand wahrgenommen. Man war da, aber niemand dachte sich was dabei, wenn er einen sah.“
Sie lebt in einem Wohnviertel für Einkommensschwache, den Jane Addams Homes, dem ersten derartigen „project“ in Chicago. Sie bewohnt ein Reihenhaus. In der Wohnung: überall Bücher. „Bücher sind mein Leben.“ Sie ist Autodidaktin, arbeitet als Hilfsschwester in einem angesehenen Krankenhaus. „Die Patienten dort sind gewöhnlich Leute mit Geld. Ich finde sie faszinierend.“ Ihre beiden Kinder Carol, 21, und Julian, 17, sitzen neben ihr auf der Couch. Carol ist schwanger; das Kind wird in einigen Monaten erwartet. „Ihre Ehe ist schiefgelaufen. Julian? Soll ich ihm die Chance geben, ein Mann zu werden, oder nicht? Es war ein Risiko, daß ich ihn nach Selma mitgehen ließ. Ich hatte Todesangst und war gleichzeitig sehr stolz auf ihn. Er war erst sechzehn und ich hatte Angst, er könnte noch nicht verstehen, was dort wirklich ablief. Aber ich konnte ihm das nicht sagen. Ich hätte ihm seine Chance genommen, ein Mann zu sein.
Ich war einer von diesen Negern, um die es immer Krach gibt, weil ich solche Sachen las wie „The American Dilemma“, und weil ich offen mit dem Buch in der Hand herumlief, verstehen Sie? Ich habe sie auf so viele Arten herausgefordert, es machte ihnen schon fast Angst. (Lacht.) Wissen Sie, das ging so weit, daß jedesmal, wenn ich in einen Fahrstuhl stieg — ,Was liest du da, Lucy? Was liest du da? Was liest du da?‘ Das fing an, mir Spaß zu machen, verstehen Sie? Man macht einfach dieses Stereotyp kaputt, daß alle Neger unwissend sind, daß sie nicht lesen wollen, daß sie dies nicht wollen, jenes nicht wollen. Sie wollen sich nicht selbst helfen. Sobald sie merken, daß man es versucht... Wissen Sie was? In Wirklichkeit machen ihnen die Neger gar nicht so viel Kummer, besorgt sind sie um sich selbst. Wenn ich wirklich gegen sie angehen will, wissen Sie, was ich mache? Ich starre sie an. Dann kuschen sie. (Lacht.)...
Spannend ist jetzt für mich nur noch mein Enkelkind und wie ich ihm helfen kann. Das wäre schön. Wissen Sie, ich werde mir Sachen leisten können, die es zu Malerei, Musik, Literatur bringen, zu all diesen Sachen, die seine kleine Seele befreien können. Machen wir uns doch nichts vor. Was zählt, ist Wissen. Und Empfinden. Wissen Sie, es gibt so etwas wie einen Gefühlston. Er kann freundlich sein, er kann feindlich sein. Und wenn du den nicht hast, Baby, dann bist du hinüber. Dann bist du tot.“
Lucy Jefferson starb 1984.
Enkel William Freeman
Wir schreiben 1990. Dies ist Lucy Jeffersons Enkel, jetzt vierundzwanzig. „Sie könnten sagen, ich war dabei, als Sie 1965 meine Großmutter besuchten.“
„Meine Großmutter hat all ihre Energie darauf verwandt, mir alles mögliche nahezubringen, Gutes und Schlechtes, in der Musik, in Kunst und Literatur. Ich wünsche mir wirklich, meine Großmutter wäre jetzt hier, um den Lohn ihrer Mühe zu erleben. Ich habe viele Möglichkeiten. Ich werde mehr Dinge tun und Orte sehen als die meisten anderen Schwarzen.
Ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Leben ohne meine Großmutter ausgesehen hätte. Es gab nur einen Weg, wie wir vierhundert Jahre Sklaverei und dazu noch hundert Jahre Ausbeutung wettmachen konnten: die Mühen meiner Großmutter und meiner Mutter. Sie mußte die Geschichte weitergeben und sie mußte die Geschichte korrigieren, um mir diese Last abzunehmen. Ich erinnere mich, daß ich mit ihr ins College ging, wenn sie an Kursen teilnahm. Ich hatte keinen Vater. Viele sagen, ,oh wie schrecklich‘. Dann sage ich, ,Das verstehen Sie nicht‘. Ich hatte drei wunderbare Menschen — mein Onkel auch —, deren Energie und Leben meinem Erfolg gewidmet waren. Alle kannten nur eins: ich sollte schaffen, was ich schaffen mußte. Den Übeln dieser Gesellschaft zu entkommen, hieß in der Schule gut sein. Ich lernte sehr früh, daß man zuallererst an das glauben muß, was man tut. Man muß von Anfang an sagen: Ich werde ein sehr guter Biologe sein, ein sehr guter Arzt.
Viele der weißen Studenten wissen wirklich nichts über schwarze Menschen. Man hat das Gefühl, man wird wie ein Quotenfall behandelt, nicht weil man qualifiziert ist, nicht weil man die Arbeit kann. Sie schauen auf einen herab. In der Medizinschule merke ich weniger davon, aber es ist da. Ich habe eine Menge weißer Freunde und wir sprechen über diese Dinge. Ich fühle mich dadurch nicht bedroht, aber ich sehe die möglichen Gefahren. Man kann nicht immer wissen, wem man trauen kann, wem dein Interesse wirklich am Herzen liegt. In großen Teilen der schwarzen Gemeinde ist es ein ungeschriebenes Gesetz: weiße Freunde können wirklich weiße Freunde sein, aber wie lange werden sie weiße Freunde bleiben? Man ist immer auf der Hut, selbst unter den günstigsten Umständen. Man prüft immer. Das ist eine Sache des Selbstschutzes. Es ist notwendig. Es ist etwas, das sich aus der Geschichte der Sklaverei entwickelt hat, aus Hunderten von Jahren.
Ich sehe schwere Zeiten voraus, besonders für die schwarzen Menschen in diesem Lande. Die Wut wächst unter den schwarzen Menschen, seit dieses Land nach rechts gerückt ist. Der schwarze Mann ist jetzt sichtbar, aber in vielen Fällen ist er ebenso unsichtbar wie früher. Der weißen Mehrheit fällt es leicht, eine schwarze Stimme zu ignorieren, die ihnen sagt, was wichtig ist. Es ist sehr seltsam. Ausbildung ist der Weg, auf dem sich jeder selbst befreien kann. Wenn Menschen verstehen, wer sie sind, und wenn sie ihre Geschichte verstehen, haben sie mehr Selbstachtung. Bevor die Integration funktionieren kann, muß es gegenseitigen Respekt geben.“
Seine Mutter Carol Freeman
William Freemans Mutter, Lucy Jeffersons Tochter. Sie ist heute sechsundvierzig. Sie ist Chefsekretärin des Kanzlers der City Colleges von Chicago und lebt in einem Einfamilienhaus in einem schwarzen Mittelklasse/Arbeiter-Viertel an Chicagos South Side. Sie lebt allein.
„Als meine Mutter von einem ,Gefühlston‘ sprach, meinte sie, daß du dich in eine Person versetzt und ihre Gefühle nachvollziehst. Du kannst ihre Schwierigkeiten verstehen, du kannst ihre Sorgen verstehen. Ein Weißer kann nicht empfinden, was ein schwarzer Mensch fühlt, weil er unsere Erfahrungen nicht gemacht hat. Ich denke, er fühlt anders, er leidet anders. Er sieht eine Welt, die sich völlig ändert, und er herrscht nicht mehr.
Als Sie meine Mutter besuchten, saß ich da und war mit meinem Sohn schwanger. Es war ein schwerer Kampf, aber meine Mutter und ich hatten uns festgelegt. Als William das Vierjahresstipendium gewann, waren wir so stolz auf ihn. Sie hätten ihn in Princeton genommen, in Yale, in Harvard. Aber er wollte nach Stanford. Meine Mutter hat sein erstes Jahr in Stanford noch erlebt. Hier in diesem Wohnzimmer.
Ich glaube, wir haben einen Rückschritt erlebt. Ich betrachte mir diese Kinder, die jünger sind als mein Sohn. Sie haben nicht die Art Hoffnung, die ich meinem Sohn eingeflößt habe. Sie haben nichts, woran sie sich halten können, sie haben niemanden, mit dem sie sprechen können, es gibt nichts, wohin sie gehen können. Wir haben so viel verloren, es ist schwer zu sagen, wo es anfing. Es ist wie die Offenbarung des Johannes in der Bibel. Wir sehen mit an, wie alles aus dem Leim geht. Vielleicht brauchen wir eine Depression, damit die Leute verstehen, daß wir nicht allein auf dieser Welt leben können. Es braucht zehn Generationen, um eine Sklavenmentalität loszuwerden. Die Sklaverei ist noch nicht so lange her. Als einzige Rasse wissen wir nicht, wer wir sind. Wir sind so eine Mischung: verschiedene Farben, verschiedene Sprachen, verschiedene Nationalitäten. Weiße haben einen Vorteil, sie können sagen: „Ich komme aus Polen“ oder „ich komme aus Irland“. Wir können das nicht, uns bleibt nur das „Ich bin aus Detroit“ oder Louisiana...
Mein Sohn hat überdurchschnittliches Glück. Er hatte eine Mutter, eine Großmutter, einen Onkel, die ihn alle wirklich liebten. Nur ein Vater fehlte ihm. Viele schwarze Männer haben diese Art Liebe nicht. Ich machte meinen Sohn zu meinem Leben. Wieviele Eltern tun das? Der schwarze Mann in diesem Land ist eine verlorene Seele. Mein Bruder auch. Ich glaube, in den neunziger Jahren und vielleicht bis zum Jahr 2000 werden die Vereinigten Staaten eine ungeheure Veränderung erleben. Das muß sein. Der Reichtum ist zu ungleichmäßig verteilt. So etwas wie eine Mittelklasse gibt es nicht mehr. Wir müssen eine Menge Dinge in Ordnung bringen.
Julian Jefferson
Lucy Jeffersons Sohn; Carol Freemans Bruder; William Freemans Onkel. „Sie und Mama saßen auf der Couch und wir saßen einfach so daneben und hörten zu. (Lacht leise.) Schwer zu glauben, daß es schon fündundzwanzig Jahre her ist. (Nachdenklich.) Fünfundzwanzig Jahre. Sie sagte uns, es käme in ein Buch, also war es eine Riesensache. Als Sie damals zu uns kamen, dachten die Nachbarn, Sie wären ein Versicherungsvertreter oder ein Geldeintreiber. Das waren die einzigen Weißen, die man dort zu sehen kriegte. Als Sie schließlich kamen, starrte alles auf unseren Eingang. Es war eine große Sache, eine Riesengeschichte.
Es ist Martin Luther Kings Geburtstag, 1989
„Die Fahrt nach Selma vergesse ich mein Leben lang nicht. Gerade heute war ich in einem Restaurant und sie spielten Dr. Kings Marschmelodie, ein bißchen verjazzt. Es erinnerte mich an meine Zeit in Selma. Ich war fünfzehn, als wir ein Sit-in beim Erziehungsstadtrat machten. Ich wollte mit den anderen ins Gefängnis. Ich habe mich älter gemacht, um mit den anderen eingesperrt zu werden.
Heute dreht sich alles um Computer. Dafür habe ich mich entschieden. Alles aufgeben und in eine neue Richtung gehen. Ich gehe jetzt zur Schule, um Computeringenieur zu werden. Die meiste Zeit habe ich alle möglichen Jobs gemacht und bin in irgendwelche Schulen gegangen, um mich zu qualifizieren. Meiner Mutter verdanke ich alles, auch wenn ich kein Arzt oder Anwalt geworden bin. Sie brachte mir Manieren bei, und daß ich für mich und meine Rechte eintrete. Ich kann mit Menschen umgehen und sie nicht vor den Kopf stoßen. All die kleinen Dinge, von denen sie mir sagte, sie würden mir im Leben helfen.
Wenn man fernsieht und von irgendeinem Verbrechen hört, fragt man sich als erstes: War der schwarz oder weiß? Es sieht so aus, als warteten wir nur darauf, daß uns irgend jemand einen Grund gibt, damit wir wieder völlig ausrasten können. Wir sind einfach nur noch eine Zeitbombe. Man kann der Spannung nicht aus dem Wege gehen.
Nehmen wir an, ein Araber kommt her. Sechs Monate ist er da, und dann gründet er ein Geschäft, während unsereiner Jahre bräuchte, um die Lizenz zu kriegen. Ich verstehe das nicht. Es ist, als bekämen wir in unserer eigenen Gemeinschaft keinen Fuß auf den Boden. Bevor wir uns umdrehen, hat schon ein anderer das Sagen. Wir haben doch qualifizierte Leute, die ein Geschäft betreiben können. Man hat uns nie die Möglichkeit gegeben. Sie geben dir gerade so viel — Sie kennen das alte Sprichwort: Gib ihnen gerade so viel, daß sie glücklich sind. In dem Viertel, in dem ich jetzt lebe — ich glaube, es gibt keine zwei Geschäfte, die Schwarzen gehören. Hauptsächlich Leute aus dem Nahen Osten und ein paar Asiaten.
Die Schwarzen kamen gut mit den Juden zurecht, die früher hier lebten. Die Neuen jetzt nehmen alles Geld und schicken es nach Hause oder was immer sie damit tun.
Man muß zugeben, daß diese Quotengeschichten irgendwie unfair sind. Ich weiß, warum es dazu kam. Wir brauchten irgend etwas, was uns einen Schubs gab. Bei dem Tempo, wie das damals ablief, hätten wir niemals eine Chance gekriegt. Wir brauchten irgend ein Gesetz, damit wir eine Chance kriegten. Aber wenn ich für eine schwarze Firma arbeiten würde und die würden sagen, ,Wir müssen diesen Weißen befördern, weil er hier zu einer Minderheit gehört, auch wenn er schlechter qualifiziert ist als Sie‘, das würde mich unglaublich verletzen.
Ich war vier Jahre arbeitslos und bin kein einziges Mal zur Wohlfahrt gegangen. Ich schämte mich. Das Stigma, das es bedeutet. Das Stigma sagt anderen Menschen, du bist faul und willst nicht arbeiten. Das glaube ich nicht. Wohlfahrt ist in Ordnung, für andere. Nimm dir jede Hilfe, die du kriegen kannst, da ist nichts Unrechtes dran. Aber ich will sie nicht, nicht für mich. Wenn ich ohne das überleben konnte, dann bin ich ein richtiger Überlebender. Wenn die Dinge gleich wären, bräuchte niemand die Wohlfahrt.
Ich kann nicht bitter sein. Ich mag vieles nicht, was um mich herum vorgeht. Aber was will ich erreichen, wenn ich mich jeden Tag einfach hinsetze und mein Herz mit Haß fülle? Ich kann nicht bitter sein. Ich wünsche niemandem was Böses. Ich will bloß nicht, daß mich jemand belästigt. Ich würde gern meine Arbeit tun, einfach das Leben genießen und in Würde alt werden.“
Aus dem Amerikanischen von Meino Büning; gekürzte Fassung des Buch- Kapitels „Lucy Jefferson's Legacy“, S. 27-41
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