: Vertreibunspolitik schafft Flüchtlinge
■ UNO-Sonderbotschafter zweifelt offizielle Zahl der Todesopfer in Bosnien an/ „Serbische Republik Bosnien“ gründet eigene Armee/ Bosnische Serben betreiben den Anschluß an Serbien
Berlin (afp/taz) — „Die Situation ist eigentlich noch viel schlimmer, als es über die Presse erscheint“, erklärte der Sondergesandte des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen, Jose Maria Mendiluce, in Genf. „Die Brutalität übertrifft das Vorstellbare, niemand weiß, wieviel Tote es wirklich gibt.“ Offiziell würden 1.300 Tote genannt, 6.700 Verletzte und 2.000 Verschwundene seien gezählt. Aber die Zahl der Opfer sei in Wirklichkeit viel höher. So würden die toten Autofahrer nicht mehr registriert, die mit einem Kopfschuß hinter den Steuern gefunden würden. Scharfschützen gebe es überall. Der Kampf „Tür zu Tür“ sei Wirklichkeit geworden.
Bosnien ist im Krieg versunken. Es sind weit mehr Menschen auf der Flucht, als bisher angegeben, mindestens 650.000 haben ihre Häuser verlassen, vielen von ihnen gelang es, die Grenzen zu den Nachbarländern zu überschreiten, Zehntausende irren zwischen den wechselnden Fronten umher. In manchen Gebieten herrscht Hunger, und Krankheiten verbreiten sich. Und den Sondergesandten der UNO, Mendiluce, hat besonders erschüttert, daß diese Fluchtbewegung nicht allein durch die Kampfhandlungen erzeugt wird. Vielmehr sei es das erklärte Ziel der paramilitärischen Verbände, eine Fluchtbewegung auszulösen, erklärte er. Anders ausgedrückt: Was sich jetzt in Bosnien abspielt, ist die systematische Vertreibung der jeweiligen Minderheiten. In mehrheitlich serbischen Dörfern oder Städten sind es Muslimanen und Kroaten, die fliehen müssen, in mehrheitlich muslimanischen und kroatischen die Serben wie in Odzad im Norden des Landes. Da in einzelnen Gebieten wie um Kiseljak (30 Kilometer nordwestlich von Sarajevo) nun auch Kroaten und Muslimanen gegeneinanderstehen und aufeinander schießen, sind die Fronten noch komplizierter geworden.
Daß es auch anders gehen kann, zeigt die Stadt Tuzla, die „Oase des Friedens“. Dort leben die 135.000 Muslimanen (47 Prozent), Kroaten (15), Serben (15) und Jugoslawen (Menschen, die sich nicht ethnisch definieren, 20 Prozent) noch friedlich zusammen. Tuzla, das nur 60 Kilometer von der serbischen Grenze entfernt liegt, ist ein Beispiel für die These, daß nach wie vor friedliches Zusammenleben im Vielvölkerstaat möglich ist, wenn die politischen Voraussetzungen gegeben sind. In Tuzla hat nämlich bei den Wahlen die Partei des früheren jugoslawischen Ministerpräsidenten Ante Markovic gewonnen, die einen antinationalistischen Kurs steuert. Ihr serbischer Vizebürgermeister hat sich klar gegen den Nationalismus ausgesprochen, die Polizei ist nicht wie anderswo entlang der ethnischen Linien auseinandergebrochen. Vergeblich bat der Gemeinderat, zu den Verhandlungen mit der EG hinzugezogen zu werden.
Verhandelt wird nur mit den Nationalisten. Die serbischen Nationalisten haben jetzt weitere Voraussetzungen dafür geschaffen, das von ihnen kontrollierte Gebiet zu einem eigenen Staat zu erheben. Am Dienstag abend beschloß das „Parlament“ der „Serbischen Republik Bosnien“ in Banja Luka, bald freie Wahlen abzuhalten und gleichzeitig die jetzt geschaffenen Grenzen mit allen Mitteln zu verteidigen. Deshalb soll eine „reguläre serbische Armee für Bosnien“ aufgebaut werden, die aus den Einheiten der ehemaligen jugoslawischen Bundesarmee und den Freischärlern gebildet wird. Ihr Kommandant, Ratko Mladic, führte bis vor kurzem die Armee der serbischen „Republik Krajina“ in Kroatien. Und Ratko Mladic steht für den Zusammenschluß der bosnischen und kroatischen von Serben kontrollierten Gebiete mit Serbien. Würde dieser Plan gelingen, wäre Bosnien- Herzegowina nur noch ein geographischer Begriff. Erich Rathfelder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen