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Jalalabad nach dreizehn Jahren Krieg

Die afghanischen Mudschaheddin in der ungewohnten Umgebung einer friedlichen Stadt/ Die neuen Herren beherrschen das Straßenbild, und die Frauen verschwinden aus dem Blick/ Kabul scheint fern — und die Jalalabad regierende Shura zeigt sich bislang gewillt, die Konflikte politisch zu lösen  ■ Von Bernard Imhasly

Jalalabad (taz) — Auf dem Markt von Jalalabad ist fast alles billiger geworden, mit einer Ausnahme: Der Preis für Baumwollstoff ist gestiegen, seitdem die Mudschaheddin vor zwei Wochen die Stadt übernommen haben. Nicht daß sich 20.000 Freischärler plötzlich neu einkleiden wollten; es ist vielmehr die Nachfrage nach einem weiblichen Kleidungsstück, die mit ihrer Ankunft gestiegen ist. Der Hijab braucht viel Stoff, denn wenn ihn die Frauen überwerfen, soll er mit Ausnahme eines gehäkelten Augenschlitzes unter dem verstärkten Kappenrand alle Körperkonturen im wallenden Gewand verschwinden lassen.

Hijabs waren in Afghanistan nach 1963, als die Verfassung den Frauen gleiche Rechte gab, aus den Städten weitgehend verschwunden. Nun, nach dem Fall des Regimes in Kabul, warteten die Frauen Jalalabads gar nicht erst auf die Ankündigung neuer Kleidervorschriften — die Klugen deckten sich schnell damit ein, während die Zukurzgekommenen sich nun erst recht nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.

Jalalabad wird ohnehin von den neuen Herren bestimmt. In Gruppen bewachen sie, nachlässig auf zerfetzten Fauteuils sitzend, alle öffentlichen oder verlassenen Gebäude. Sie kreuzen mit ihren Toyota Hilux, Modell 92 — denn ein Pickup (eine Art offener Kombi) ist nach der Kalaschnikow das wichtigste Statussymbol eines afghanischen Kriegers —, durch die schattigen Alleen. Viele von ihnen tümmeln in einem der zahlreichen Gärten, offenbar fasziniert von den üppigen Rosenblüten, denn immer wieder sieht man einen Mudschahed, der sich eine Blume abgebrochen hat und an der Nase reibt.

Die Stadt scheint ihrem wilden Äußeren den Stachel genommen zu haben — und auch nach einem 13jährigen Krieg wird Jalalabad seinem Titel der „Stadt der tausend Gärten“ gerecht, den ihr die Mogulkaiser gegeben hatten. Von der Anhöhe eines kleinen Hügels am Stadtrand betrachtet, verschwindet sie im Grün der Bäume und Felder, die sich bis hinunter zum Kabulfluß ausbreiten, und nur der aufsteigende Staub markiert den Bazar und verwischt die Konturen der schneebedeckten Gipfel der Safed Koh-Kette im Hintergrund. Auch die 13jährige Belagerung konnte dem Bild einer Sommerfrische, die Jalalabad früher für die Kabulis gewesen war, offensichtlich wenig anhaben. „Die Gärten“, so behauptet ein alter Einwohner, „haben die Stadt vor ihrer Zerstörung bewahrt“, denn die Geschosse der belagernden Mudschaheddin seien meist im Grün gelandet. Haji Qadir, der Vorsitzende der Shura — also des Rates, der nun die Stadt und mit ihr die ganze Provinz Nangarhar regiert—, weist dies lächelnd zurück.

Getreide im Park

Die Mudschaheddin hätten viel zu wenig Munition gehabt, um die Stadt zu zerstören; ihr Ziel sei ohnehin die Aushungerung Jalalabads gewesen.

Daß dies nicht gelang, mag aber wiederum den Gärten zu verdanken sein — im Park des königlichen Sommerpalastes etwa wächst Getreide. Dagegen wird die Behauptung Qadirs, es sei die Armee gewesen, die Tausende von Geschossen auf den Belagerungsring um die Stadt abgefeuert habe, unmittelbar einsichtig: Leere Granathülsen gibt es in derartiger Hülle und Fülle, daß sie für die alte Stadtverwaltung offenbar zum wichtigsten Gestaltungselement wurden — als Zaunpfähle für die zahlreichen Blumenbeete, als Straßenmarkierungen oder als Stützen für die Hocker und kleinen Picknicktische, die unter den üppigen Bougainville-Büschen aufgestellt wurden.

Die Kehrseite der Medaille wird dagegen in der Umgebung der Stadt sichtbar: die Landschaft ist übersät mit Bombentrichtern, und die strategische Verbindungsstraße zwischen Peschawar und Kabul ist an vielen Stellen unterbrochen. Heimkehrende Flüchtlinge werden von den Männern an den Straßensperren ermahnt, wegen Minengefahr die Trasse nicht zu verlassen, wenn sie anhalten und die Tücher für die Gebete auslegen.

Angesichts der Erfahrung des bitteren und erfolglosen Belagerungskrieges ist es erstaunlich, daß die Übernahme der Stadt nicht in Plünderungen und Racheakte mündete. Die Mudschaheddin scheinen ihren Sieg vielmehr als Wiedervereinigung denn als Eroberung empfunden zu haben. Dies zeigt sich etwa an der Behandlung, die sie den Vertretern des alten Regimes zukommen lassen. Der frühere stellvertretende Provinzgouverneur, ein Funktionär der Ex-Regierungspartei, hat seinen Posten immer noch inne. Nur ist er jetzt Assistent des Shura-Vorsitzenden Haji Qadir — und wohl auch um einiges folgsamer und eilfertiger.

Pragmatik herrscht vor

Auch die Armee-Offiziere, (noch) ohne Bart, aber bereits im traditionellen Shalwar-Hemd, leben in ihren Wohnungen und beziehen ihre alten Rationen. Zur Besprechung mit einem Team der UNO-Entminungsgruppe kommen auch sie in Toyotas angefahren, die ihnen die Shura ausgeliehen hat. Mudschaheddin und Offiziere begrüßen sich mit der traditionellen Ehrerbietung, bevor sie sich gemeinsam über die Karten beugen und sachlich darüber diskutieren, wie man am raschesten die Minenfelder säubern kann, die sie und die Sowjettruppen rund um die Stadt gelegt hatten.

Die Shura, der 30köpfige Rat der Kommandanten aller wichtigen Guerillaverbände, ist nicht nur für die Entminung auf die Zusammenarbeit der Vertreter des alten Regimes angewiesen. Haji Qadir gibt freimütig zu, daß es schwierig wäre, ohne die alte Verwaltung die Provinz wieder auf die Beine zu bringen: die Schulen sind geschlossen, die Spitäler ohne Medikamente, die Felder vermint. Die meisten Straßen müssen repariert werden, damit ein Transportnetz nachwachsen kann und damit die lokalen Märkte wieder entstehen.

Die ungeklärte Machtfrage in der Hauptstadt hat auch den Vorteil, daß die Shura die Provinz praktisch autonom regieren kann — was sie vermutlich auch sonst täte. Erstaunlicherweise zeigt die immer größer werdende Kluft zwischen verschiedenen Guerilla-Gruppen in Kabul praktisch keine Nachwirkungen in Jalalabad. Das mag damit zusammenhängen, daß die Provinz Shura bereits drei Jahre besteht und schon die Kriegsführung koordiniert hat. Haji Qadir ist seit langem Vorsitzender und war auch der Militärkommandant. Alle größeren Gruppen sind, entsprechend dem Gewicht der traditionellen Führer in der Bevölkerung, in der Shura vertreten.

Die bisher ausgebliebene Spaltwirkung der Ereignisse in der Hauptstadt ist ein Hinweis, wie unabhängig die Kommandanten von ihren politischen Führern sind, die früher in Peschawar und nun in Kabul sitzen. Obwohl die große Mehrheit der Shura nominell den Parteien der Interimsregierung zugeordnet wird, hat sie sich geweigert, die Linie Kabuls zu übernehmen. „Wir haben“, sagt Qadir, „beschlossen, eine Delegation nach Kabul und zu Hekmatyar zu entsenden. Aufgrund ihres Berichtes wird die Shura ihre Haltung festlegen.“ Quadir betont die Notwendigkeit einer politischen Lösung des Konflikts. Afghanistan habe genug gelitten, und es sei nun wichtig, den Wiederaufbau in die Hand zu nehmen. Diese offizielle Haltung entspricht vermutlich der Überzeugung des bedächtigen Shura-Vorsitzenden. Ob sie aber von allen Mitgliedern geteilt wird, ist weniger sicher.

Sanah Gul, dessen 1.200 Mann starke Paschtunen-Truppe der Partei des Interimspräsidenten Mudschaddidi angehört, ist weniger staatsmännisch: Er macht klar, daß er im zentralen Streitpunkt — der Anwesenheit der Usbeken-Milizen in Kabul — auf der Seite des Paschtunen Hekmatyar steht und — wenn nötig — auch gegen seinen eigenen politischen Führer ins Feld ziehen wird.

Guls direkte Sprache zeigt, daß es noch lange dauern wird, bis sich ethnische Loyalitäten politischen Opportunitätsüberlegungen beugen. Allerdings ist er als Chef der Versorgung vorläufig voll damit beschäftigt, Nachschub und Verteilung der Nahrungsmittel in Jalalabad zu organisieren. Vermutlich juckt es ihn beim Eintreffen der schlechten Nachrichten aus Kabul, zur Waffe statt zur Kelle zu greifen. Die nahe Zukunft wird darüber entscheiden, ob Sanah Gul zum ungelenken Verwalter des Neuaufbaus Jalalabads wird oder ob er in die Rolle zurückschlüpft, die ihm in 13 Jahren des Krieges zur zweiten Natur wurde.

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