Eignungstest für sächsischen Sonderweg

Das Schulnetz ist geknüpft/ „Mittelschule“: Konzept mit Chancen/ LehrerInnen sollen freiwillig kurzarbeiten  ■ Aus Dresden Detlef Krell

Paul ist ein guter Schüler. Naturwissenschaftliche Fächer liegen ihm, mit Deutsch kommt er zurecht, nur Russisch mag er weniger. In der achten Klasse gelang ihm ein Zensurendurchschnitt von 2,7. Als es in Sachsen im letzten Jahr zur Prüfung für den Sprung auf das Gymnasium läutete, mußte er in Deutsch und Mathe zeigen, was er kann. Mathe hat er verhauen. Aus der Traum vom Gymnasium, vorläufig. Ab August 1992 gilt nun das neue sächsische Schulsystem mit Grundschulen und Mittelschulen, Gymnasien und Förderschulen.

Paul und die anderen Kids, die letztes Jahr an der Hürde zum Gymnasium scheiterten, können jetzt in Mittelschulen an einem bundesweit einmaligen Experiment teilnehmen. Nicht der konservative Dreiklang von Hauptschule, Realschule und Gymnasium; aber auch nicht die Gesamtschulen geben den Takt an.

Sachsens neue Mittelschulen werden vier Profile zur Auswahl stellen, ein technisches, ein naturwissenschaftliches, ein sprachliches und ein hauswirtschaftliches. Sie sollen eine „Alternative“ zum Gymnasium und „keine Lernfabriken“ sein, hofft Staatssekretär Husemann.

Nach anfänglichem Zahlenkrieg um Lehrerstellen ist das Schulnetz inzwischen geknüpft. 42.250 Stellen werden für mehr als 600.000 sächsische SchülerInnen bereitgestellt, davon 750 befristete. Das ist die „Grenze zur Notversorgung“, findet der GEW-Landesvorsitzende Uwe Höhn. Die Drohung von Staatssekretär Nowack, weitere 4.500 Entlassungen seien in Grundschulen nötig, wenn sich die LehrerInnen nicht zur Teilzeitarbeit entschließen, wertete er als „moralischen Zwang“. Das sehen auch die LehrerInnen so, die das Modell mehrheitlich ablehnen.

„Müssen andere gehen, weil ich nicht kurzarbeiten will?“ — diese Gewissensfrage lähmt die Vorbereitungen auf das neue Schuljahr. Könnten die 42.500 Lehrerstellen gehalten werden, würden in Mittelschulklassen um die 25 Kinder sitzen. „Das wäre akzeptabel“, meint Bildungs- Expertin Antje Rush (Bündnis 90/Grüne).

Sie hofft, daß nach dem lähmenden Stellen- Feilschen das vielgepriesene sächsische Modell endlich mit Leben gefüllt wird. „Die jetzige Stellenzahl gibt es nicht her, daß an jeder Mittelschule eine Hauptschulklasse geführt wird. Ich bin für differenziertes Lernen innerhalb der Mittelschulklassen.“

Mittelschulklassen können wahlweise zum Hauptschulabschluß oder zum Realschulabschluß führen. Doch wenn die SchülerInnen nach den zu erwartenden Abschlüssen sortiert würden, wäre das die Dreigliedrigkeit durch die Hintertür. „Das Kultusministerium muß sich entscheiden, ob es dem sozialen Moment der Mittelschule eine Chance gibt oder ob es dem Druck einer Trennung von Haupt- und Realschule folgt.“ Dazu gehört nach Auffassung von Antje Rush auch eine neue Definition des Gymnasiums.

Soll es, wie bisher, lediglich auf ein Studium vorbereiten? Oder müßte es als „Lebensschule“ begriffen werden? „Bisher hat sich Sachsen für ersteres entschieden. Ich fürchte, daß viele an den Gymnasien überfordert sein werden.“ Hohe Klassenstärken, unerfahrene LehrerInnen, Frontalunterricht; Pauken ist angesagt. Lehrerin Rush schlägt SchülerInnen wie Paul vor, sich an der Mittelschule zu profilieren und eventuell in der sechsten Klasse noch einmal den Sprung ins Gymnasium zu versuchen.

Angeregt von der Opposition, überlegt das mit Verwaltungskram überlastete Kultusministerium derzeit, die Profile der Mittelschule als Jahresblöcke anzubieten. Eine Schülerin, die sich in der vierten Klasse für Hauswirtschaft begeistert und zwei Jahre danach ihre Liebe zu Sprachen entdeckt, könnte dann noch umschwenken. „Das käme doch den Kids viel eher entgegen als die festen Schienen“, findet Rush.

Weitere Ideen will die Bundesarbeitsgemeinschaft Bildung der Grünen auf einem Workshop am Wochenende in Dresden beraten. Dort soll auch klarere Sicht für eine künftig gemeinsame Bildungspolitik von Grünen und Bündnis90 gefunden werden.