: Hermes-Gleiter im Cabriolet-Outfit
Der Sportschuh ist tot. Es lebe die Synthese von Sport und Fuß mit pneumatischer Stoßdämpfung und Pumpgas im Mittelfußbereich inklusive schlüpfriger Disc-Scheibe — kurz: der „Scientific Sneaker“ ■ Von Thomas Meiser
Es hilft alles nix. Mehr als 2.400 Jahre danach wird die Geschichte des ersten verbürgten Langstreckenlaufs auf Leben und Tod umgeschrieben werden müssen. Seriös Spekulierende hatten immer angenommen, daß der Läufer von Marathon nicht durch Erschöpfung verendete. Über lange Distanzen zu hetzen, mit Brustpanzer und Schild, das waren die antiken Athleten bekanntlich gewöhnt. Erinnern wird uns nur an die interkontinentalen Eilmärsche des alexandrischen Teams. Es bleibt nur das eine plausibel, der Jogger in Richtung Athen hatte nichts an den Füßen. Von wegen „Wir haben gesiegt“. Der Mann war Verlierer: Nicht vorhandenes Schuhwerk führte bei ihm zu Blasen, Blutungen und Burn out. Und dann kam Freund Hein im Sauseschritt. Auch er, nach des Menschen Ebenbild gefertigt, wird in Galoschen nach dem Schnittmuster des Adamskostüms angetrabt sein.
Vor derartiger Unbill sind die trabenden Menschen der post-coubertinischen Ära in jeder Beziehung gefeit. Denn nachdem auch die Sportartikelindustrie den Mut faßte, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, vollzog sich in der Tretertechnologie ein Paradigmenwechsel der wahnwitzigen Art. Während noch im Turniersport des späten Mittelalters die Kämpen in Blecheimern stiefelnd einander in die Schranken wiesen, dieweil ihr Fußvolk mannschaftsweise aufeinander eindrosch, die schorfigen Zehen mit Lappen nur notdürftig geschützt, gibt es seit der Neuzeit für jedwede Art von Bewegungskultur nur das eine Ding: den Scientific Sneaker!
Das neue Treterparadigma umschmeichelt Sportiven schon fünfzig Jahre lang kräftig die Beine. Jesse Owens trug 1936 bei seinen Kurzstreckenflügen einen der ersten Klompen des neuen Typs. Gemeint ist der „superleichte Sprinterschuh“, mit dem ihn Adolf D. sehr zum Ärger von Adolf H. ausstattete. Eine andere technische Innovation machte 1954 das Außenseiterteam zum Gewinner, es war die Erfindung des „ersten Schraubstollenschuhs“. Spätestens jetzt wurden alle Latschen weggekippt, bei deren Entwicklung vorher nicht „genau zugehört und beobachtet wurde, um dann konkret auf die Bedürfnisse der Sportler einzugehen“. Heute schließlich stehen wir mit „acht Millimeter starken Polyurethanzwischensohlen im Vorderfußbereich“ im Zenit dieser Entwicklung.
Und wir bezeugen den drei elaboriertesten Schuhwerk-Sohlen den verdienten Respekt: In der einen fränkischen Schusterei „herrscht derzeit eine ähnliche Spannung wie in Cap Canaveral vor dem Start einer neuen Raumfähre“. Hier sind sie kurz vor dem Abheben, weil sie „in langjähriger, intensiver Forschungsarbeit eine ganzheitliche Synthese von Fuß und Schuh“ verwirklicht haben. Kein fauler Zauber: Durch einen mehrfach gemoppelten Drehknopf, der „Disc-Scheibe“, die den Schnürsenkel ersetzt, transformieren sie den Schuh in den Fuß. Und umgekehrt. Logisch, daß sich „dem Sportler eine neues, bisher nie gekanntes Tragegefühl eröffnet“.
Dagegen will uns ein Schuhgeschäft hinter dem großen Teich mit „einem speziell entwickelten Gas“ besäuseln. Dieses ist „in der Mittelsohle des Schuhs plaziert“ — prinzipiell ein bewährtes System, das bekanntlich auch schon in „einer Vielzahl anderer Industriebereiche eingesetzt wurde: In Flugzeugreifen und Luftmatratzen“ beispielsweise. Die pneumatische Stoßdämpfung muß deswegen auch im Sport Sinn machen. Etwa als Metaphysik für lange Kerls, denn Basketballspieler landen „mit dem bis zu Zehnfachen ihres Körpergewichtes“.
Nur die Soziologie ist da noch schwergewichtiger. Der ältere fränkische Schuhmacher steht auf diese Disziplin, er läßt uns diesbezüglich „die jüngsten Forschungsergebnisse“ wissen. Diese besagen, „daß sich immer mehr Menschen auf das Wesentliche besinnen. Sie werden der technischen Gimmicks müde.“ Und wer die Luft rausläßt oder auf Knöpfscheiben verzichtet, dem bleibt nur die Profilierung durch „ehrliche Leistung und wahre Werte“. Sehr zweckmäßig ist deshalb der Laufschuh im „Cabriolet- Schnitt“, zwar ohne Überrollbügel und nicht in schreienden Farben, aber immerhin in „Schwarz, Weiß und Grün“.
Dabei reicht ein Blick in die Klassiker, um das Opium in Sachen Schuhdesign schlicht nachzulesen. Denn schon in der Antike war das Modell „Hermes-Gleiter“ mit applizierten Flügeln wohlbekannt. Und der Marathon-Mann, hätte er den Schwingenschuh getragen, wäre sogar als Überlebender unsterblich geworden. Durch seine Bestzeit, im Fluge erzielt.
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