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Schloß Havelland

Der Birnbaum in seinem Garten stand  ■ Von Gabriele Goettle

Ribbeck liegt vierzig Kilometer westlich vor Berlin, im sogenannten Havelland. Es ist eins der zahllosen Straßendörfer, wie sie sich, umgeben von Feldern, Wäldern und Wiesen, an der Bundesstraße fünf entlangdehnen, bis hinauf nach Hamburg. Die zweitbreiteste Straße im Ort kreuzt die B5 und ist rechter Hand neuerdings nach Fontane benannt (zuvor nach Lenin), während sie links der Bundesstraße schlicht Lindenstraße heißt. Um diese Kreuzung herum erstreckt sich das Dorf, wobei rechts, noch aus feudaler Zeit herrührend, die wesentlichen Einrichtungen residieren.

Im Zentrum liegt das architektonisch uninteressante Schloß mit preußisch-spartanischem Park. Das prächtigste Gewächs ist eine große Eiche (glaube ich), gesäumt von einer Reihe alter Pappeln. Am Giebel des Schlosses ist die Jahreszahl 1893 zu lesen, womit aber nicht das Erbauungs-, sondern das Umbaujahr angezeigt wird. Seit Ende der fünfziger Jahre befindet sich in diesem Gebäude das Alten- und Pflegeheim „Schloß Havelland“. Von ihm aus führt, quer über den schattigen Kirchplatz, unter hohen Kastanien, ein schmaler heller Streifen durchs Gras, ausgetreten von all den Alten und Kranken, die jahrzehntelang diese Abkürzung nahmen beim Einkauf im Konsum, schräg gegenüber.

Um den Kirchplatz herum verläuft hufeisenförmig ein holpriger Weg, vorbei an der Remise mit dem eingestürzten Dach — dort standen ehemals die Reitpferde, die der Rittmeister von Ribbeck für preußische Kavallerieregimenter züchtete —, an Unterkünften für Landarbeiter, an Hof und Stallungen der LPG, die Milchkühe, Rinder und Schweine hält und sich im Umbau zur GmbH befindet, am Gebäude der alten Brennerei mit dem hohen Schornstein, die lange schon als Lagerhaus dient, an niedrigen Doppelhäuschen mit blühenden Vorgärten — unter denen auch das ehemalige Pfarrhaus ist, in dem zwei alte Frauen leben — eine der beiden wurde bereits exmittiert im Rahmen des neuen christlichen Tatendurstes. Mitten in dieser Idylle steht, unter Linden, Robinien und Kastanien, die Dorfkirche mit neuem Dach, innen wird gerade renoviert. Eine Kirchenschiffverkleinerung und frischer Putz. Dennoch darf sich die winzige Schar gläubiger Protestanten auf triste Gottesdienste einstellen, die alte Orgel, vor fünf Jahren zu Reparaturzwecken abtransportiert, ist seither verschollen. Nicht verschollen, sondern nur verlegt sind die Gebeine der ehemaligen Herren von Ribbeck, von denen einer derjenige mit dem legendären Birnbaum gewesen sein soll. Am Ende des Parks, hinter einem rostigen schmiedeeisernen Eingangstor, stehen fünf weiße Steinkreuze auf derben Sockeln, umgeben von einer Schar wohlbeleibter Hühner, die hier nach Futter picken.

Dann gibt es noch das Gemeindeamt sowie eine Kindereinrichtung, die, seit im Schloß der Schichtdienst eingeführt wurde, ab sechs Uhr morgens geöffnet hat, und, ebenfalls an der B5 gelegen, die Fontane-Gaststätte. Auf der linken Dorfseite hingegen sind am Waldrand nur noch ein Jugendklub und das Spartenheim der Kleintierzüchter zu finden.

An diesem Dorf wäre nichts Besonderes, gäbe es nicht Fontanes Ballade vom Birnen verschenkenden Herrn von Ribbeck, dem Kinderfreund, der noch aus dem Grab heraus Früchte spendet. Aber auch sie hätte mich nicht zu genauerem Hinsehen verführt. Das eigentlich Spannende ist, wie hier bürgerliche Sozialillusion und gescheiterte demokratische Revolution in miniaturistischer Form ihre Spuren hinterlassen.

Fontane war geradezu ein Sinnbild dieser Paarung. Er hatte eine lebenslang anhaltende, unglückliche und unerwidert gebliebene Liebe zum Adel. Zu den grobschlächtigen preußischen Junkern, ihren Schlössern, Parks, Friedhöfen und Schlachtfeldern. Er fühlte sich hingezogen zu Werten wie Gesetz, Befehl und Pflichterfüllung. Dennoch stand er als junger Mann im März 1848 auf einer Barrikade in Berlin. Allerdings, bewaffnet mit einem Gewehr aus dem Theaterfundus, das zum Schießen nichts taugte. Mit siebzig Jahren, 1889, schrieb er die balladeske Schmähung auf den anachronistisch und kleinkrämerisch gewordenen Adel, dem er seine Idealgestalt, den herzensguten Edelmann und Herrn über Land und Leute, entgegenhielt. Noch fünf Jahre später haderte er in dem Gedicht An meinem Fünfundsiebzigsten, daß seiner großen Geburtstagsehrung im Englischen Haus die Ribbecks und Kattes, die Bülows und Arnims etc. grußlos fernblieben, „und über alle hab ich geschrieben“.

Heute erlebt das Dorf Ribbeck gerade die Erschütterungen des jüngst gescheiterten sozialistischen Demokratisierungsversuchs in aller Härte. Anders als im kapitalistisch hartgesottenen Westdeutschland machen sich in der ehemaligen DDR jetzt die Fehler einer fast hundertfünfzigjährigen Geschichte deutlich bemerkbar für die Bevölkerung. Auf dem Land stockt die Zeit und schrumpft zusammen. Wurde gerade erst der junkerliche Großgrundbesitz von feudalen in kapitalistisch wirtschaftende Güter umgewandelt, diese dann in volkseigene Güter mit Bodenreform, dann Zwang zur kollektivierten Landwirtschaft, so ringen bereits jetzt wieder die alten Feudalherren um die Rückgewinnung dieser Güter und Ländereien. Und immer wars zum Schaden der Bauern.

Über Ribbeck liegen die letzten zwei Zeilen aus Fontanes Ballade wie ein Bannfluch: „So spendet Segen noch immer die Hand/ Des von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.“

Herr von Ribbeck

Wer Genugtuung empfand, als das Bundesverfassungsgericht bestätigte, daß die Bodenrefom im Falle der enteigneten adeligen Großgrundbesitzer, Kriegs- und Naziverbrecher nicht rückgängig gemacht werden kann, der hat sich zu früh gefreut. Bei der Unterwanderung des Verfassungsartikels 143 arbeiten Behörden und Gutsbesitzer in spe meist Hand in Hand. Es werden finanzielle Konzessionen eingeräumt, die dem kapitalistischen Geschäftsgeist widersprechen. Das ist eine der vielen Gesten, mit denen das neue Deutschland zu verstehen gibt, daß es sich nichts mehr bieten läßt, schon gar nicht von den Russen, die diese Bodenreformregelung in den Einigungsvertrag hineindiktierten.

Jetzt lautet die Parole offensichtlich: „Bauernland in Junkerhand!“ Laut 'Spiegel‘ von Ende April 1992 kehrt der Adel Zug um Zug auf seine Güter in Ostdeutschland zurück. Getarnt, als Geld oder Birnen spendende Vaterfiguren, die dem infrastrukturschwachen Land Kapital, Arbeitsplätze und modernes Know- how bringen, nisten sich die Grafen wieder auf ihren Stammsitzen ein. Zur Erreichung dieses Ziels lassen sie sich allerhand einfallen, bis hin zur Behauptung, der damals Enteignete sei Antifaschist gewesen und als solcher „Opfer des Faschismus“ geworden. Für einen Nachkommen ohne Kapital ist diese Version besonders geeignet, denn nur sie könnte in der Lage sein, den Artikel 143 für diese Liegenschaften außer Kraft zu setzen. Eine kostenlose und vollständige Rückübereignung wäre die Folge.

„Man muß den Marketing-Anschub, den Fontane gegeben hat, doch ausnutzen“, sagte Herr von Ribbeck im 'Spiegel‘. Er weiß konstitutionell, daß es nun heißt, Birnen zu nehmen, und nicht, Birnen zu geben. Ganze Birnenplantagen könnten aus dem Boden schießen, wenn man ihn nur ins „Domizil seiner Ahnen“ zurückkehren ließe. Dann will er sein Dorf übernehmen und umkrempeln, es auf die Höhe der neuen Zeit bringen, mit Tourismus, Reiterhof, Pizzeria, Sägewerk und Käserei. Die 1.000 Hektar Wald und 700 Hektar Ackerland sind für jeden Kapitalgeber eine hervorragende Sicherheit. Das eigentliche Kleinod der von Ribbeckschen Zukunftspläne aber ist eine exklusive Managerschule, die im „großen Haus“ residieren soll. „Großes Haus“, so vertraut von Ribbeck dem 'Spiegel‘ an, nenne er es vorläufig, denn: „Schloß klingt in der heutigen Zeit nicht mehr so gut“.

Oberschwester

Ich bin seit Anfang der sechziger Jahre hier im Heim als Schwester tätig. Von all denen, die damals hier gearbeitet haben, bin ich als einzige übriggeblieben.

Ich wohne hier im Ort, gleich vorn neben dem Eingang. Aber gebürtig bin ich aus Polen. Bei der Umsiedlung damals kamen wir in einen Transport, der nach dem Westen gehen sollte, aber unterwegs wurde er geteilt, die eine Hälfte da hin, die andere dort. So sind wir hier hängengeblieben. Wir wurden in ein Gutsgebäude hier ganz in der Nähe einquartiert, dann bekamen wir Land, und meine Eltern wurden Siedler. Aber mein Vati war schwerbeschädigt aus dem Krieg heimgekehrt und konnte nicht mehr richtig, obwohl er Schmied gelernt hatte und vom Lande stammte. In die LPG sind wir dann gar nicht mehr reingegangen, wir haben vorher aufgehört.

Die Ribbecks sind wohl so 46 oder 47 endgültig weggegangen, ich weiß nicht genau, das Schloß und alles hier war ja von der Roten Armee in Besitz genommen worden, und dann hat man Platz gebraucht für die Umsiedler. Aber wie ich gehört habe, sollen die Ribbecks ja schon vor dem Krieg rausgewesen sein aus dem Schloß, da hat sich wohl eine Abteilung der Luftwaffe eingerichtet, die Funkwache, die sollten wohl Funksprüche abhören und entschlüsseln und vor anfliegenden Bombenflugzeugen rechtzeitig warnen. Die haben hier einiges veranstaltet, drüben auf den Feldern, die heißen „lange Stücken“, da sollen sie „Klein-Berlin“ aufgebaut haben. Die ganze Stadt in klein, ganz lebensecht, mit Reichstag und allem, sogar Straßenlicht solls gegeben haben und kleine Autos, die rumfahren. Damit sollten wohl die Flieger getäuscht werden, sie sollten denken, daß hier schon Berlin ist... ich weiß es auch nicht.

Und da hats dann, aber das habe ich auch nur gehört, hier irgendwas gegeben mit dem Ribbeck. Er hat sich unbeliebt gemacht bei denen oben. Angeblich soll er eine Offiziersfrau mit der Peitsche geschlagen haben, weil sie durch sein frisches Feld gelaufen ist. Irgendwie hat er sich dann auch nicht entschuldigen wollen, jedenfalls hat man ihn nach Potsdam gebracht, und dann soll er nach Oranienburg gekommen sein, sagt man, aber irgendwas Genaueres weiß da wohl niemand.

Jedenfalls wurde das hier Bodenreformland, und ein Teil davon wurde an die landlosen Bauern und Siedler ausgehändigt. Ende der fünfziger Jahre sollte das Schloß dann Feierabendheim werden, oder, wie man heute sagt, Seniorenheim. Aber dann kamen nicht genug Senioren zusammen, also hat man ein Pflegeheim aufgemacht. Die Zustände waren nicht die besten. Wir hatten hier lange Zeit einen sehr schlechten Ruf, Oben war eine geschlossene Abteilung. Da waren auf engstem Raum, mit vergitterten Fenstern und Türen ohne Klinken, zweiundzwanzig Leute untergebracht. Die hatte man aus den Anstalten und der Landesnervenklinik hierher abgeschoben. Einige waren gefährlich, einige hatten durch den Krieg den Verstand verloren. Da gabs immer ein Getobe und Geschrei, einen Dreck und Gestank, das ist unbeschreiblich. Es war so schrecklich, daß alle hier fortwollten.

Später wurde es dann besser, die geschlossene Station wurde aufgelöst. Aber wir hatten sehr einfache Verhältnisse. Nicht mal einen Aufzug hatten wir früher, alles mußte die Treppen raufgeschleppt werden, Material und Patienten. Und als der Aufzug dann kam, das war eine sozialistische Errungenschaft, aber funktioniert hat er bis vor einiger Zeit nie, irgendwie war die Stromspannung die falsche. Jetzt ist vieles anders geworden, man hat uns einiges gespendet vom Westen, was die Arbeit erleichtert. Wir haben schöne Farbfernseher und einen Kran, um die Patienten in die Badewanne zu heben.

Auch der Pflegeaufwand ist nicht mehr so groß, jetzt haben wir dieses Einweg-Inkontinenzmaterial. Früher mußten wir dauernd Bettlaken und Stecktücher wechseln, unsere Schwerkranken lagen auf Dauer- Gummibecken. Trotzdem, da sind wir stolz drauf, gab es kaum Dekubitusfälle, wir haben immer umgebettet, abgerieben und frisch gemacht.

Ich erhoffe mir eigentlich nur eins, daß unseren Alten hier alles erhalten bleibt und sie in Ruhe und Frieden leben können.

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Fortsetzung

Bürgermeister

Das ist also der Schlag, auf den ich so lange gewartet habe. Jetzt will der Herr von Ribbeck alles wiederhaben. Vorstellen kann ich mir das schon. Vom Standpunkt der Familie Ribbeck aus ist es ganz einfach. Für die war ihr Leben, das sie früher hier geführt haben, schön. Und der Dreikäsehoch, der er damals war, als sie weg mußten, hat vielleicht auch schöne Erinnerungen, mag alles sein. Aber was die Bevölkerung für Erinnerungen hat, das ist eine ganz andere Sache. Aus diesem Blickwinkel sehen die Dinge so aus, wie sie sind.

Managerschule... die kann er auch woanders aufmachen. Also, wir hatten ihn hier eingeladen, damals, er war hier, er hat seine Ansichten dargelegt, wir haben ihm zugehört. Gesagt haben wir ihm folgendes: Wenn er hier als Investor tätig werden möchte, dann soll uns das recht sein, vorausgesetzt natürlich, daß diese Tätigkeiten auch zum Wohle der Gemeinde sind. An sich hörte sich das damals alles nach Luftschlössern an.

Sehnse mal, wir haben jetzt hier eine vernünftige Nutzung, wir haben einen Träger, der die Modernisierungsmaßnahmen durchführen wird, das ist die Arbeiterwohlfahrt. Das sind für uns hier dreißig Arbeitsplätze, und zwar Frauenarbeitsplätze, die in der Region absolut knapp sind. Und überhaupt, das ist bei uns ja nicht so wie in der Stadt, unsere Alten hier gehören mit dazu, zum öffentlichen Leben, wir sehn sie nicht nur beim gemeinsamen Erdbeerfest, ich kenn sie beim Namen. Und da kommt der Herr und will eine Managerschule in unserem Altenheim betreiben? Die Vorstellung ist ganz unmöglich. Dabei hat er, als er hier war, vor dem versammelten Gemeinderat laut und deutlich die Aussage gemacht, daß er das Schloß nicht anrühren will, solange die Alten drin sind.

Und was die Flächen betrifft, von denen er spricht, die 700 Hektar, davon lebt ja ganz konkret der andere große Teil unserer Leute hier. Wir sitzen hier ja alle mehr oder weniger auf Bodenreformland. Sie müssen das so sehen, nach dem Urteil in Karlsruhe, das ja endgültig ist, war es dann rechtens, daß diese Sperrvermerke „Bodenreform“ überall rausgenommen wurden, so daß die Bauern die Eigentümer bleiben. Unsere ehemalige LPG ist ja zusammengeblieben, wir haben keine „Wiedereinrichter“, bei uns haben alle Bauern ihrs drin gelassen. Also, die Genossenschaft oder GmbH hat im Prinzip den Boden von ihren Bauern gepachtet und dazu noch Flächen von der Treuhandanstalt. Das wird alles bewirtschaftet, Pflanzen- und Tierproduktion. Und wir haben schon genug Sorgen, so gibt es hier in der Region noch immer nicht den im Westen üblichen Erzeugerpreis für unsere Milch und unsere Tiere, für alles, was wir selbst kaufen müssen, Maschinen und so weiter, sollen wir aber den vollen Preis hinlegen.

Wir haben es schwer. Die Vermarktung von allem und jedem, das wurde bei uns früher ja etwas stiefmütterlich behandelt, zugegeben, andererseits ist es aber so, daß wir hier auf einen Herrn von Ribbeck nicht angewiesen sind, wir haben's bisher auch ohne ihn gut geschafft. Beispielsweise haben wir bereits unsere Wasseraufbereitungsanlage aufgebaut, das war eine Investition von etwa 200.000Mark. Jetzt haben wir endlich eine ordentliche Trinkwasserqualität, fürs Dorf und für unsere Alten. Als nächstes steht die Kläranlage auf dem Programm. Wir stemmen uns hier keineswegs gegen den Fortschritt, wie uns der Herr Ribbeck vorwirft, aber wir möchten uns auch nicht verkaufen lassen. Denn daß er hier ankommt, um Wohltaten zu vollbringen... also das wagen wir ganz ernsthaft zu bezweifeln.

Heimleiterin

Wir haben hier drei Stationen, auf denen 71 Bewohnerinnen und Bewohner leben. Die jüngste ist 20, die älteste 91 Jahre alt. Die Männer sind in der Minderheit, es sind nur 16. Wir haben also junge und alte Bewohner, geistig behindert, körperlich behindert, Gesunde und Kranke. Im Prinzip haben wir sogar ein Ehepaarzimmer, das ist momentan aber leider nicht belegt, Sexualität ist ja auch im Alter noch da. Ein Einbettzimmer haben wir, da wohnt eine Patientin, die schon über dreißig Jahre im Haus ist.

Mitarbeiter haben wir etwas mehr als 30 momentan. Die meisten unserer Patienten kommen hier aus der Region. Einige kamen aus der Bezirksnervenklinik, aber die wollen wahrscheinlich langfristig rüber nach Markee, in die Rehabilitation. Denn für die ist das eigentlich hier gar nichts, es gibt ja keine ausreichende Förderung. Das zwanzigjährige Mädchen beispielsweise, Rosita, ist geistig und körperlich behindert, die hat sich hier zwar ihre Omi adoptiert und alles, aber wir können sie eben nur betreuen. So ganz allmählich ändert sich einiges zum Guten. Auch unser Aufzug geht, nur die Schwesternrufanlage funktioniert noch nicht. Irgendwie zurückgeblieben kommt man sich vor.

Andererseits, wir waren neulich im Westen, zur Besichtigung, in einer Abteilung für chronisch Kranke. Also, ich muß schon sagen, ich war richtig schockiert. Alles so vollkommen steril, modern und kalt, da war kein Persönliches von denen, die dort lagen, nicht einmal ein Bildchen an der Wand, nur alles abwaschbare Technik. Bei uns ist das — ehrlich, ich muß sagen, zum Glück — ganz anders. Da gibt's Tapeten, normale Möbel, Blumentöpfe, die Betten stehen mal so, mal so. Und jetzt, seit wir nach dem neuen Pflegegesetz die Bettenzahl pro Zimmer verringern mußten, ist es richtig luftig. Maximal vier Betten dürfen im Pflegebereich sein. Und ein weiterer Unterschied zum Westen ist, daß bei uns die Alten in ihren Zimmern sterben dürfen und nicht abgeschirmt und abgeschoben werden. Das ist auch für die anderen wichtig, die dann ja wissen, was passiert ist mit ihrer Nachbarin.

Zum Glück hat uns jetzt die Arbeiterwohlfahrt übernommen, da habe ich ein ganz gutes Gefühl. Wir sind von Westfirmen bestürmt worden, auch von solchen, die hier die ganze Hygiene übernehmen wollten, mit eigenen Putzkräften und allem, welche, die die Küche übernehmen wollten. Aber das sind ja alles Arbeitsplätze. Wir haben sogar mal einen Versuch gemacht mit Tiefkühlkost von „Apettito“, es aber wieder aufgegeben. Jetzt wird wieder bei uns gekocht und wirklich sehr gut. Überhaupt können wir die Verpflegung heute reichhaltiger anbieten als früher, besonders Obst und Gemüse. Nur die bürokratische Arbeit hat sich vermehrt, alles und jedes muß jetzt festgehalten und mit Unterschriften versehen werden, die Kompetenzen sind nicht mehr dieselben, aber insgesamt können wir hier eigentlich hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

Im Schloß

Von der Parkseite tritt man durch einen Windfang in die Halle ein. Hier sitzen die Raucher auf den plastikbezogenen Sesseln, die jedem ehemaligen DDR-Bürger vertraut sind. Auf dem Tisch liegt das obligatorische geblümte Wachstuch. Hier ist so eine Art zentraler Platz zwischen Stationen und Speiseraum. Alle kommen vorbei, Besucher, die zur Verwaltung wollen, Personal und Bewohner. Nebenan liegt der Speiseraum, mit Fünfziger-Jahre-Interieur, Sessel und Tische mit Spreizbeinen, weißes Wachstuch, Musiktruhe, zwei Lautsprecher an der Wand rechts und links der Tür, Fernseher, Gummibaum und Weihnachtskaktus. Eine hohe Tür führt von hier aus in die Küche. Der große Raum ist von Sonnenlicht durchflutet, die weiß gekachelten Wände und verchromten Gerätschaften funkeln. Im großen Bratbehälter schwimmen panierte Koteletts im sprudelnden Fett und werden ab und zu gewendet. Streß scheint man hier nicht zu schätzen. Die Atmosphäre ist altmodisch, fast behaglich.

Von der Halle aus führt eine Treppe zu den Stationen oben, vorbei an einem sozialistisch-realistischen Wandrelief, über das ich nichts weiter sage. Alle Stationen erstrecken sich über die ganze Länge des Schlosses. In den grau gestrichenen Fluren mit den röhrenförmigen Stützgeländern an der Wand und den Holztüren fühlt man sich ein wenig wie in der Touristenklasse eines einfachen Passagierschiffes. Die Alten sitzen auf Stühlen vor ihren Zimmern im Flur oder gehn umher, freundlich grüßend, zerstreut lächelnd oder auch mißtrauisch beobachtend. In den polierten Linoleumböden spiegeln sich Möbel, Menschen und die Kugellampen mit dem Milchglas. Mir fällt auf, daß in Treppenhaus und Gängen überall Taschenlampen an Magnethalterungen hängen, sie sind wohl noch ein Relikt aus den Zeiten, in denen manchmal der Strom ausfiel. Ebenso wie in den Fluren sind auch in den Zimmern die Wände bis zur Schulterhöhe mit Ölfarbe gestrichen, erst darüber beginnen die Tapeten. Jedes Zimmer ist individuell tapeziert und möbliert. Tische, Sessel, Schränke, Regale, Stehlampen, Fernsehgeräte. Nur wenige Zimmer haben eine Krankenhausatmosphäre, die meisten wirken lebendig und bewohnt. Das Einzelzimmer der Frau, die seit mehr als 30 Jahren hier lebt, ist sogar das, was man ein Schmuckkästchen nennt. Es herrscht strikte Ordnung und Sauberkeit im zellenförmigen Raum. Über das Bett ist eine seidig schimmernde Tagesdecke gebreitet, auf der knapp neben dem mit Handkantenschlag geteilten Sofakissen mehrere große Puppen thronen. Sie selbst, dunkelhaarig, groß und kräftig, sitzt in ihrem Strickkleid ganz vorn auf der Bettkante und lächelt, als sei sie der Besuch.

In der Halle zeigt die Uhr über dem Speiseraum halb zwölf. Am Tisch sitzen immer noch die Raucher. Herr Flögel, das glatte, dunkle Haar zurückgekämmt, den massigen Körper in Hose und Jackett gezwängt, die fahrbare Gehhilfe griffbereit neben sich, und Herr Puttlitz, schlank, mittelgroß, mit weißem Haarkranz.

Herr Flögel

Die Karre brauch ich zum Gehen, wissen Sie, eine Lok hat mich überrollt. Aber ich hatte Glück, nur der Schuh ging verloren, das Bein war mehrmals gebrochen und blieb dran.

Seit vier Jahren bin ich hier, damals hatten wir noch die DDR. Früher war ich Eisenbahner, davon könnte ich Ihnen Geschichten erzählen... was wir nich alles organisiert haben... dabei wollte ich als Junge viel lieber Schlosser werden, aber so ein Berufsberater hat mich geradezu gezwungen zur Bahn.

Dort war ich dann aber ganz gern, wir haben zusammengehalten im Kollektiv. Bei der Bahn ist jeder für den andern da. Wir konnten alles besorgen, man hat hier was abgezweigt und dort was eingetauscht. Na, ich war Heizer, und eines Tages sollte ich heizen, aber es war keine Kohle da, nichts. Das hätten Sie mal sehen sollen, wie die sich gewundert haben, als ich trotzdem mit einmal den Kessel unter Dampf hatte. Und wie habe ich das gemacht? Ich habe die Kohlen aufgesammelt, die überall zwischen den Gleisen rumlagen, die runterfallen vom Ruckeln, und schon konnte es losgehn. Da mußte man sich zu helfen wissen, bei uns früher.

Übrigens, da gabs mal eine Schmalspurbahn, die lief hier früher hinter Ribbeck vorbei. Eines Tages wurde stillgelegt, und da kam die Volksarmee, die rissen die Gleise raus und haben Spanische Reiter draus gemacht. Das waren unruhige Zeiten, damals Ende 1950. Ich weiß noch, die Schwellen waren begehrt, das ging nicht lange, da war alles weg.

Sie sind doch durch Wustermark gefahren. Gibt es da noch den Fleischer, also, der liegt praktisch an der Ecke, bei dem schmeckte alles wie hausgemacht. Zum Russen konnten wir auch gehn, ins „Haus der Offiziere“, da gabs alles so wie im „delikat“, und billig. Dort war ich mal, kurz vor Weihnachten, mit meinem Jungen und habs ihm gezeigt.

Ich bin ja wegen dem Suff da, nur wegen dem Suff. Damals, nach der Scheidung, habe ich mich halb totgesoffen, ich blöder Hund. Dann war auch schon die Wohnung weg, das Geld, die Arbeitskraft. Sowas wollte man damals ja gar nicht hören, Suff, Alkohol... das gabs offiziell gar nicht. Dann kam das gebrochene Bein dazu und ich rin ins Krankenhaus. Morgens gabs ne Kanne Tee, die mußte abends leer sein. Nach einer Woche war ich geheilt. Hier machen sie jetzt Patientenberichte, in einem Buch machen sie rote und grüne Punkte, im anderen rote und grüne Streifen. Da steht dann zum Beispiel drin „Volltrunkenheit“ und sowas, nach gerade mal ein paar Bier. Aber sonst kriegen wir hier von der Wende eigentlich nicht viel mit.

Herr Puttlitz

Mit zwei t. Anjeblich bin ick von Adel, mein Großvater soll aber den Titel verkoft haben, wejen Jeldmangel. Det habe ick erst erfahrn, als ick die Papiere für meine Kriegstrauung zusammenjesucht habe. Vorher wußt icks nich, und hinterher hat det mir och nich jenützt.

Am 14.Oktober bin ick sechs Jahre hier. Jeboren bin ick 1914, am Prenzlauer Berg, in Berlin, det Haus steht nich mehr, die janze Ecke is wech. Jelernt hatte ick zuerst Schuster, denn war ick als Stahlwerker in Hennigsdorf, da ham wir janz schön hart jearbetet. Und denn war ick och Straßenbahnfahrer, hab den Dreier jefahrn, im großen Ring janz um Berlin herum. Aber nach der Spaltung durften wa ja nich mehr rüberfahrn, die Linie wurde verlecht.

Im Krieje war ick och. Wurde in Graz verwundet. In Jugoslawien ham mich die Partisanen jefangn, det war mein Jlück. 47 bin ick frei jekommn, und nu sitz ick hier, hab keene Familie, keene Verwandten, jarnischt. Keenen, der mir mal ne Ansichtskarte schreibt. Sie! (lacht), ick hab mir sojar mal selbst eene jeschrieben, die kam am nächsten Tach schon im Schloß hier an. Nich mal jestempelt hatten sie die, sowat is nich det Wahre. Aber ick mache meine Spazierjänge, immer weite Strecken, rechts Felder, links Felder und keen Mensch zu sehn. Im Herbst is hier allet voller Obst.

Manchmal, seit der Wende, da mach ick solche Tajesfahrten mit. Ick hab ja zum Jlück keen Jeld, also kann ick och nischt kofen. Dafür, und fürs Rochen, jeht mein ganzet Jeld wech. Aber ick will ja noch wat sehn von der Welt. Am 9. wollen wir wieder ne Fahrt machen, von der Kirche in Brieselang bis nach Potsdam, und am Abend jehts zurück.

Ein, zwei Sachen sind seit der Wende ja besser. Früher lajen wir zu sechst im Männerzimmer, heute sind wir viere. Aber Streit jibt et trotzdem, wat Hartmut — er wohnt mit mir zusammen. Und denn jibt et noch nen Zuckerkranken, der sitzt den janzen Tach im Rollstuhl und hat schlechte Laune, er schreit und schreit und det allet nur, damit die Schwester kommt und er im Mittelpunkt steht. Der andre, der noch mit drinne wohnt, hat offene Beene, die suppen und müssen immerzu jewickelt werden. Det hat er vom Rochen oder wat, vom Saufen. Det is keen Wunder, der schüttet den Alkohol janz schön in sich rin, der will sich janz betäuben. Früher hatten wir mal nen Arzt hier, der wollte ihm die Beene immer abschneiden, und meine jleich mit.

Na, jeder hat so seine Ansichten. Zum Beispiel soll det Fenster nachts nu offen bleiben oder nich? Der eine so, der andere so. Und wenn ick mal nachts leise aus meine Pantoffel schlüpfe, wenn ick vom TV komme, denn jibts immer jleich Ärjer: „Mach mal nicht son Krach, kann ja keen Mensch bei schlafen“ und sone Reden. Aber mit die Erotikfilme kann ick mir nich befreunden, die uns der Westen jetze sendet. Da hab ick jenuch von, ick hab abjeschaltet, für mich is det zu primitiv, so sehe ick det. Ohne richtje Lebensfreude.

Und so wandeln sie durch den Park, sitzen auf den schattigen Bänken unterm Baum oder lehnen am Zaun, plaudern mit den Vorbeikommenden und schaun den Traktoren und Pferdewagen nach. Herr Puttlitz, der dicke Hartmut mit der Gehhilfe, die Polin mit Schal und Wollmütze, die nicht Deutsch spricht und von allen „Väterchen Frost“ genannt wird, Rosita, die Zwanzigjährige, Häschen der Schweizer, die Mongoloide, die immer ihre Puppe herumträgt und einen Freund hat, die Witwe eines Försters, der früher in Ribbecks Diensten stand, die Frau, die seit dreißig Jahren hier ist, und der Mann mit den zwei Krücken, der mal FDGB-Boß in Nauen war.

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