piwik no script img

„Kassandra wählt man nicht“

Thomas Meyer, Verfasser des SPD/SED-Dialogpapiers von 1987, ist einer der Vordenker der SPD. Über Intellektuelle und Partizipation, Rollenzwang und die Notwendigkeit der Parteireform.  ■ INTERVIEW: CHRISTIAN SEMLER

taz: In der Republik herrscht Unmut. Die politischen Eliten werden zunehmend verspottet und abgelehnt. Fühlt sich die SPD betroffen?

Thomas Meyer: Es gibt im Moment in der SPD noch keine ausreichende Diskussion darüber, wie die „politische Klasse“ zu bewerten ist und welche Auswirkungen sie in ihren besonderen Verhaltensnormen und Sozialisationswegen auf die politische Kultur hat. Ich sehe das Problem so: durch das hohe Niveau der Arbeitsteilung, das wir in unseren komplexen Gesellschaften nun mal haben, ist die Ausbildung einer Klasse von politischen Profis unvermeidlich. Daraus resultieren gravierende Probleme. Nur einige Beispiele: Erstens die zunehmende Tendenz, daß Menschen unmittelbar nach der Ausbildung Politik als Beruf wählen. Diese Leute sind in der „Lebenswelt“ nur schwach verankert, weswegen ihre Alltagserfahrung, ihre Lebenskultur, ihre Freundschaften sich doch stark von dem unterscheiden, was in der Gesellschaft gedacht und gefühlt wird. Zweitens: Die Karriereplanung der Politiker führt zur Anpassung an vorgegebene Regeln, riskantes Verhalten wird nicht prämiert. Hinzu kommt, daß sich ein hochgradiges internes Gemeinschaftsbewußtsein bei der politischen Klasse herausbildet, oft nur halb bewußt. Für noch problematischer halte ich drittens, daß der vorgezeichnete Erfolgsweg zu kommunikativen Fähigkeiten zwingt, die hauptsächlich auf die Vermittlung von Gruppen- und Verbändeinteressen ausgerichtet sind. Zu diesem „Handwerkszeug“ kommt die starke Medienorientierung. Erfolg und Mißerfolg, etwa bei der „Besetzung“ von Themen, persönliche Profilierung — alles wird über die Mediendominanz entschieden. Die Politiker-Medien-Symbiose ist das Zentrum der politischen Kommunikation.

Es gibt keine Menschen mehr, die, wie Willy Brandt, eine authentische Lebensgeschichte verkörpern. Es gibt kaum Leute, die ihre spezifischen Erfahrungen, z.B. aus der Arbeitswelt, in die Politik einbringen. Das ist für meine Partei besonders gravierend, weil der politisch-moralische Anspruch, Basisinteressen und ein gesellschaftlich bestimmtes, partizipatorisches Demokratieverständnis zu vertreten, immer noch unsere Identität ausmacht.

Sie sprechen vom „Leiden“ in der SPD an der eigenen politischen Elite. Wer leidet?

Zunächst einmal: es gibt in der SPD eine weit verbreitete Reserve gegenüber dem bloßen Begriff „politische Klasse“ — eben weil Absonderung und Entfremdung in ihm mitschwingt. Vor allem an der Basis, aber auch auf Führungsebene, ich nenne ausdrücklich Engholm, existiert Unbehagen am vorherrschenden Typus des Politikers. Aber dieses Unbehagen ist bis jetzt politisch nicht ausreichend thematisiert.

Liegt ein Teil der Schwierigkeit darin, daß die SPD-Mitglieder ihre Organisation nach wie vor als „Programmpartei“ sehen, den großen Entwurf erwarten und dann frustriert sind, weil ihre Leute im Politikastertum absaufen?

Es gibt tatsächlich eine Spannung zwischen gesamtgesellschaftlichen Reformprojekten und dem, was noch machbar ist, genauer dem dramatischen Souveränitätsverlust des Staates nach innen und außen. Daß der Staat unbeschränkt aktionsfähig ist, ist eine alte sozialdemokratische Lieblingsvorstellung. Das funktioniert nur noch in wenigen Teilbereichen, z.B. der Energiepolitik. Ansonsten geht es darum, Rahmenbedingungen zu setzen, zu verhandeln, auszutarieren. Nun haben wir bei vielen Politikern die fatale Tendenz, fehlende Handlungsmöglichkeiten durch symbolische Inszenierungen zu ersetzen. Sie erzeugen den Schein von Handlungskompetenz. Es wird unklar, ob sie versäumen, das zu tun, was getan werden kann, oder ob sie einfach vorgespielt haben, etwas tun zu wollen, was einfach nicht machbar ist. Viele Politiker scheuen davor zurück, ihre beschränkten Handlungsmöglichen zuzugeben. Nicht zu Unrecht nehmen sie an, daß ihre Konkurrenten weiter sagen werden: Mit mir im Amt ist alles möglich!

Wirkt im Fall der SPD die Ideologie des Etatismus weiter?

In der sozialdemokratischen Tradition geht es um die Gegenmacht des demokratischen Staates gegenüber der kapitalistisch vermachteten Gesellschaft. Aus dieser Betrachtungsweise des Staates als Instrument grundlegender Reform hat sich geschichtlich ein genereller Glaube an die Allzuständigkeit des Staates entwickelt. Was die „kleinen Leute“ selbst nicht durchsetzen konnten, erwarteten sie von der großen Macht von oben. Heute verbreitet sich in der SPD die Einsicht, daß Emanzipation nur in sehr geringem Umfang dadurch erreicht wird, daß Barrieren von oben beseitigt werden. Die Anstöße müssen aus der Gesellschaft selbst kommen. Aber der Etatismus steckt nach wie vor fest in den Empfindungen der Menschen — und dieses Gefühl wird von den Politikern „bedient“.

Hat diese auf gesellschaftliche Prozesse zielende Linie in der SPD nach 1989 nicht einen entscheidenden Rückschlag erlitten?

Das Glück der deutschen Einheit war Pech für unser Berliner Programm. Die Tagesordnung hat sich verändert. Traditionelle Fragen wie die der sozialstaatlichen Absicherung des Wandels in der ehemaligen DDR, die Möglichkeit staatlicher Strukturpolitik stehen im Vordergrund. Das ist zwar unvermeidlich, aber dennoch von Übel. Denn die brennenden „neuen“ Fragen wie die notwendige soziale Technikgestaltung, der Erhalt einer einigermaßen erträglichen Lebenswelt verlangen eine ganz andere Form der politischen Willensbildung. Wir haben diese Forderung mit dem Begriff des „Bürgerdialogs“ umrissen, sie aber kaum mit Leben erfüllt.

Wie ist das Klima in der SPD gegenüber Denkanstößen, die von Intellektuellen innerhalb und außerhalb der Partei kommen?

Es gibt zwei Arbeitszusammenhänge. Den der Kommissionen, Gruppen, die „policies“ entwerfen und wo Politiker und Wissenschaftler miteinander arbeiten. Da läuft eine ganze Menge, fragt sich nur, wie weit diese Arbeit in die Tagespolitik einfließt. Dann gibt es die Intellektuellen, die sich die Freiheit einer grundlegenden Kritik nehmen. Sie werden zunehmend Opfer unserer Verdrängungsgesellschaft: Die Kluft zwischen dem, was man weiß, und der Bereitschaft, aus diesem Wissen Konsequenzen für die Tagespolitik zu ziehen. Die Gewöhnung an Warnungen, an die Beschreibung von Gefahren. Kritik als Kulisse des Tagesgeschäfts. Wir alle, die Gesellschaft, verfallen diesem Verdrängungsmechanismus. Daraus ziehen die Politiker die Konsequenz: Kassandra wird nicht gewählt!

In der Bundestagsfraktion der SPD wimmelt es von Professoren. Wie hoch ist deren Bereitschaft, neue Fragen aufzunehmen?

Die Zahl der Abgeordneten, die bereit sind, sich mit langfristigen bzw. „Tiefen“-Problemen unserer Gesellschaft zu befassen, ist meiner Meinung nach in der SPD immer noch größer als in den anderen Parteien. Das müssen nicht einmal immer Wissenschaftler sein. Aber es gibt eben auch Rollenzwänge. Wenn jemand Mandatsträger ist und wiedergewählt werden will, ist er nicht mehr so frei in der rückhaltlosen Thematisierung von langfristigen Problemen, er kann nicht so freimütig über die Folgen von Unterlassungen sprechen. Der „Zwang zum Positiven“ wirkt sich aus, d.h. sich auf das zu beschränken, was heute durchsetzbar ist.

Wie leicht oder schwer ist es für einen Intellektuellen, Parteimitglied oder Sympathisierender, das Ohr eines SPD-Mächtigen zu gewinnen?

Ich unterscheide drei Typen von Intellektuellen im Umkreis der SPD. Erstens diejenigen, die aus einer moralisch-politischen Grundsolidarität heraus und ohne sich um Umsetzungschancen zu kümmern, zu Wort melden. Es gibt zweitens Intellektuelle, die Parteiämter haben, aber nicht kraft dieser Funktionen sondern kraft ihrer Fähigkeiten intervenieren und der Parteilinie eine neue Wendung geben. Ich nenne Eppler und Glotz. Und es gibt drittens Intellektuelle, die in den Gremien an der Formulierung von „policies“ mitarbeiten. Als in der SPD noch der Glaube vorherrschte, daß die Emanzipation über den ganz großen Entwurf läuft, war der Respekt vor allen drei genannten Intellektuellentypen groß. Wenngleich ihr Einfluß auf die Tagesarbeit auch damals gering war. Aber auch heute ist die Partei auf programmatische Arbeit angewiesen und damit auf die Hilfe der Intellektuellen. Das heißt nicht, daß sie bei uns besonders beliebt sind. Aber es geht nicht ohne sie.

Wird von der Führung überhaupt gelesen, was die „Entwurfs-Intellektuellen“ zu Papier bringen?

Ich glaube ja. Die Arbeit der Grundwerte-Kommission wurde nicht in der Weise angenommen, daß die Parteiexekutive sie unmittelbar zur Richtschnur oder auch nur besonders ernst genommen hätte. Die Ergebnisse wirkten mittelbar, durch die Veränderung der Koordinaten in der öffentlichen Diskussion.

Nehmen wir ein Beispiel, wo der Staat wirklich handeln und damit weittragende Konzepte sinnvoll sein könnten: die Europapolitik und die Politik im Rahmen der UNO. Von seiten der SPD-nahen Wissenschaftler gibt es hier Überlegenswertes. Die Beschlußlage der SPD ist aber eher kläglich. Man denke nur an die „Blauhelm“-Diskussion.

Wir haben eine außenpolitische Kommission, die den Ehrgeiz hat, einen großen Politikentwurf für die postkommunistische Welt zu erarbeiten. Ein mühsames Geschäft, für dessen Bewältigung wir uns ein bis eineinhalb Jahre gönnen. In den 70er und 80er Jahren gab es in der Partei den Gegensatz zwischen den mehr pazifistisch orientierten Kräften und denen, die auf Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der Nato setzten. Diese Kontroverse ist überholt durch neue, radikale Fragestellungen. Was ist die Rolle der Bundesrepublik in einer sich rapide verändernden Welt? Wie ist eine demokratisch verfaßte, auf regionalen Zusammenhängen basierende Weltgesellschaft möglich? „Intensivierung oder „Extensivierung“ Europas?“ Wie können die postsozialistischen Gesellschaften stabilisiert, wie kann ein Konsens über die künftig notwendigen Transferzahlungen Richtung Osten erreicht werden?

Konzentrieren wir uns auf das „Europa-Problem“. Eigentlich müßte eine „Theorie mittlerer Reichweite“ ausgearbeitet werden. Kann die SPD das überhaupt noch schaffen?

Ein derartiger Entwurf müßte auf zwei Jahrzehnte angelegt sein. In ihm müßte festgelegt werden, welcher Kernbereich Europas intensiv integriert werden kann, in welcher Zeitfolge und mit welchen Kooperationsformen zu diesem Kernbereich die übrigen europäischen Länder einbezogen werden können. Gerade denjenigen Ländern, die im Zeitraum von sagen wir 10 Jahren nicht mit einer EG-Mitgliedschaft rechnen können, muß ein präzises Angebot unterbreitet werden. Das liegt vor allem im westeuropäischen Interesse. Bedenken Sie bitte, daß einer OECD-Studie zufolge östlich des Ural 14 Millionen Menschen auf gepackten Koffern sitzen.

Angenommen, es gelingt, ein solches Projekt auszuarbeiten — hätte es in der SPD selbst eine Chance?

Die SPD muß ständig den großen Spagat bringen, wenn sie mehrheitsfähig sein will. Sie muß die Interessen der Arbeitnehmer vertreten und die der „mittleren Milieus“, die aufgestiegen sind, eine andere politische Kultur haben. Jedes Konzept, das Umverteilung von West nach Ost vorsieht, muß die Interessen der ersten Gruppe auf Wohlstandssicherung in Rechnung stellen. Auch die zweite Gruppe ist auf Besitzsicherung orientiert, sie öffnet sich aber stärker den Erfordernissen globaler Rationalität. Wir haben das in den Programmdiskussionen zur Ökologiefrage schon einmal durchbuchstabiert. Intellektuelle können auf dieser Ebene viel leisten, aber die eigentliche Schwierigkeit liegt natürlich in der Umsetzung. Wenn dann noch populistische Strömungen ins Spiel kommen, wird die Aufgabe nicht gerade leichter.

Investitionen in ökologische Projekte hier sind leichter zu vermitteln als Investitionen in die Sowjetunion...

Die SPD kann ein großangelegtes außenpolitisches Projekt entwickeln, aber es wird sehr, sehr schwierig werden. Wenn es richtig ist, daß der Wohlstandschauvinismus wächst und daß es Formen nicht mehr sozialbezogener Individualisierung gibt, die das Klima bestimmen, muß man sich schon etwas einfallen lassen. Vermittlung selbstdefinierter Bedürfnisse mit gesellschaftlichen Erfordernissen — darum geht's. Für mich bleibt die Idee der Gerechtigkeit zentral. Sie ist natürlich für sich genommen keine Strategie. Aber durch gesellschaftliche Diskurse könnte geklärt werden, wie legitime („gerechte“) Einzel- und Gruppeninteressen bei uns mit ebenso legitimen Interessen anderer Völker ins Verhältnis gesetzt und beide befriedigt werden können. Meine Erfahrung lehrt mich: Wenn Menschen als Subjekt in die Politik eintreten, wächst die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Legitimationen zu akzeptieren. Die Objektrolle hingegen führt dazu, Wohlstandschauvinismus zu praktizieren und sich individualistisch einzuigeln. Daher die Notwendigkeit der Bürgerdialoge.

Dialoge zu organisieren und politische Dienstleistungen zu erbringen — ist das die Quintessenz der Parteiarbeit?

Was kann und soll sich eine politische Partei heute noch zutrauen? Hat Radunski recht, wenn er den Weg von der Mitgliederpartei zu Profi- Parteien, die Angebote machen und als Kommunikatoren funktionieren, als historisch notwendig ansieht? Meiner Ansicht wäre die Folge einer solchen Entwicklung, daß die Segmentierung der Gesellschaft und die Entfremdung gegenüber der Politik noch zunehmen. Dieser Weg scheidet für uns aus. Die SPD braucht einen dreifachen Verbund. Erstens die Profis, die ausarbeiten, was konkret in den Parlamenten umgesetzt werden muß, und die die gesamtgesellschaftliche Koordination bewältigen. Zweitens muß Platz sein für Leute, die sich nur für ein Projekt engagieren wollen, nur für eine Lebensphase. Dafür braucht es ernst zu nehmende Beteiligungsformen, nicht nur Spielmaterial. Drittens muß die Partei Service-Leistungen erbringen, durch die Dialoge von Gruppen in der Gesellschaft ermöglicht werden, die sonst nicht stattfinden würden. Diese Gruppen bleiben autonom, können aber auf die SPD bauen, wenn es um den organisatorischen Rahmen etc. also um die Verstetigung ihrer Aktionen geht. Dieser Verbund setzt einen Wandel der Mentalität voraus, auch bei unseren „Profis“.

Setzt diese „Partei neuen Typus“ nicht ein viel weiteres Konzept innerparteilicher Demokratie voraus?

Bourdieu hat in der „Theorie der feinen Leute“ herausgefunden, daß die Unterschiede im Lebensstil als immer entscheidender empfunden werden, wenn der Klassenkampf erst mal institutionalisiert und Existenzsicherung auf relativ hohem Niveau erreicht ist. Es geht um gravierende Differenzen in der Selbsterfahrung von Gruppen, ihren Sympathien, ihrer Fähigkeit zur Solidarität. Diese Differenzen haben für die SPD viel einschneidendere Folgen als für die anderen Parteien. Die müssen ein bis zwei unterschiedliche Milieus integrieren, die SPD mindestens vier — und zwar ausgerechnet dort, wo die Hauptdivergenzen spielen. Wie kann man Gruppen, die wegen dieses Unterschieds der Lebensstile eigentlich Aversionen gegeneinander haben, dennoch in einen solidarischen Zusammenhang bringen? Die Vermehrung der Kommunikationschancen ist die Hauptaufgabe der inneren Parteireform.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen