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Alltägliche Akrobatik im Rollstuhl

Hohe Bürgersteige, Stufen, Schwellen und zugeparkte Wege machen die Fortbewegung für Rollstuhlfahrer in Madrid zum Hindernisrennen/ Ausgehen nur mit Hilfe von Freunden/ Der militante Behinderte fährt auf der Straße  ■ Aus Madrid Antje Bauer

An der Rampe kippt Inaki mit einem Hüftschwung beide Beine mitsamt den darunterliegenden Räder hoch in die Luft und rollt, vorsichtig auf den Hinterrädern balancierend, hinunter. „Willst du sehen, was passiert, wenn ich die Vorderräder nicht hochnehme?“ Inaki rollt die Rampe wieder hinauf und läßt sich dann auf allen vier Rädern vorsichtig abwärtsgleiten. Am Ende der Rampe bleibt der Rollstuhl mit einem heftigen Ruck stehen. Die Vorderräder sind in einer kaum sichtbaren Rille stekkengeblieben. „Wenn man nicht aufpaßt, kann man durch so einen Ruck aus dem Rollstuhl geschleudert werden.“

Inaki ist 29 und querschnittsgelähmt. Vor acht Jahren ist er beim Bergsteigen in Marokko abgestürzt. Seither versucht er, mit dem Leben als Behinderter zurechtzukommen.

„In Märkten und Einkaufszentren kann ich mich ganz gut bewegen, denn die haben kleine Rampen wie diese hier oder Aufzüge. Die sind zwar nicht für uns da, sondern für die Hausfrauen, denen man nicht zumuten will, daß sie ihre Einkaufswagen über Stufen zerren, aber wir nutzen diese Infrastruktur.“ Ganz anders sieht es auf der Straße aus. Drei Meter freie Fahrt, dann steht mitten auf dem Bürgersteig ein Halteverbotsschild, an dem er sich vorsichtig vorbeihangeln muß. Nur wenige Trottoirs sind zur Straße hin abgeflacht, und selbst die abgeflachten Stellen sind meist noch ein paar Zentimeter höher als die Straße. Inaki hebt wieder Beine und Vorderräder, der Rollstuhl setzt mit einem Ruck auf der Straße auf, nach ein paar Metern der gleiche Akrobatenakt, um den nächsten Bürgersteig zu erklimmen. „Gut abgeflacht sind immer nur die Garagenausfahrten“, bemerkt Inaki wütend, „denn den BMWs und Mercedessen schaden die Bordsteine.“ Wann immer der Verkehr es zuläßt, fährt er deshalb gleich auf der Straße — schließlich hat auch er vier Räder.

Der Ärger mit den Hindernissen begann schon im Krankenhaus, wo er mit dem Rollstuhl nicht durch die Toilettentür paßte. Als er entlassen wurde, kehrte er zu seinen Eltern zurück, die lebten in einem vierten Stock ohne Aufzug. „Ich konnte nur ausgehen, wenn mich Freunde abholten, und mußte mit der Rückkehr warten, bis sie mich heimbrachten“, erinnert er sich.

Inzwischen hat er sich in Madrid eine eigene Wohnung gemietet, ebenerdig, und ein Auto gekauft, das er mit den Händen bedient. „Ohne Auto bist du hier völlig aufgeschmissen, denn in Madrid gibt es nicht einen einzigen behindertengerechten Bus. Die U-Bahnen kannst du auch vergessen. Die paar Stationen mit Rampe, die sie in Außenvierteln gebaut haben, nützen nichts, denn in der Innenstadt gibt es nur Treppen, und du kommst nicht raus.“ Bleiben die Taxen. Unter bestimmten Bedingungen können Schwerbehinderte eine Subvention zum Taxenpreis erhalten, die jedes Jahr neu beantragt werden muß. „Meistens geht das erst ab April oder Mai“, klagt Jose Rodriguez, Generalsekretär der COCEMFE, der staatlichen Föderation der Körperbehinderten. „Im September wird der Antrag bewilligt und ist dann ab Oktober für den Rest des Jahres gültig. Bis Oktober muß jeder das Taxi selbst bezahlen. Wer das nicht kann, bleibt eben zu Hause.“

Wer ein Auto hat, kann sich bewegen. Eine andere Frage ist, ob er einen Parkplatz findet. „Siehst du“, Inakis Finger deutet auf ein Auto, das gerade vor dem Sitz der COCEMFE einparkt. „Diese Parkplätze sind deutlich sichtbar für Schwerbehinderte reserviert. Doch das ist den meisten Autofahrern scheißegal.“ Selbst wer glücklich einen Parkplatz ergattert hat, ist noch längst nicht am Ziel seiner Wünsche. Öffentliche Gebäude, Schulen, Kinos — nur ganz wenige haben hier in Madrid Rampen und behindertengerechte Türen. Zwar gibt es schon seit Jahren Vorschriften in dieser Hinsicht, doch die werden nur gelegentlich beherzigt. Dies gilt sogar für den eben erst eingeweihten Hochgeschwindigkeitszug Sevilla-Madrid. „Letzte Woche ist zum ersten Mal ein Behinderter mit diesem Zug gefahren“, erzählt Jose Rodriguez von der COCEMFE. „Im eben erst modernisierten Bahnhof Madrid-Atocha funktionierte der Behindertenaufzug nicht, und der Passagier mußte sich über Treppen tragen lassen. Der ganze Zug hat nur einen einzigen Sitzplatz für Rollstuhlfahrer. Darüberhinaus sind der Gang und die Toiletten zu eng, so daß sich der Behinderte die ganze Fahrt lang nicht von der Stelle rühren konnte.“

Inaki rumpelt mal wieder einen Bürgersteig hoch, er ist an einem Bankautomaten angekommen. Der Automat befindet sich in einem kleinen Vorraum zur Bank. Inaki reicht mit Mühe an den Schlitz zum Einführen der Scheckkarte. Als der Türsummer ertönt, muß er gleichzeitig die Tür aufdrücken und mit der anderen Hand den Rollstuhl die Stufe hochziehen. „Wenn jemand seine Hände nicht so gut bewegen kann wie ich, ist er hier verloren.“

Stufen und zu enge Türen gibt es überall, das merkt man als Vollbewegliche gar nicht. Inaki, der ein kämpferischer Behinderter ist, hat sich einen Rollstuhl zugelegt, dessen Breite er mit einem Handgriff verringern kann. Dadurch kommt er überall hinein, doch mehrere Stufen sind auch für ihn kaum überwindbar. „De facto heißt das: viele Kneipen sind für mich tabu, viele Leute kann ich nicht zu Hause besuchen. Ich kann auch nicht irgendwo pinkeln gehn wie ihr Normale, weil ich nicht an die Toiletten komme. Deswegen habe ich immer meine Flasche dabei und entleere die mitten in der Öffentlichkeit. Was solls.“

Seit seinem Unfall hat der ehemalige Qualitätskontrolleur einer Stahlfabrik nicht wieder gearbeitet. Hat Abitur nachgemacht, mehrere Semester lang studiert, im Moment streicht er eine Wohnung, die er neu angemietet hat. Er träumt davon, einen Stadtplan für Behinderte zu erstellen, einen Plan, der alle befahrbaren Orte aufführt und vor den anderen warnt. „Ich würde gerne mal die Regierenden einladen, sich eine Woche im Rollstuhl zu bewegen. Vielleicht würden sie dann ein bißchen an uns denken, wenn sie öffentliche Bauten beauftragen.“ Entschlossen setzt Inaki bei Rot über die Straße. Sollen sie doch warten, die Normalos in ihren Autos. Sind schließlich nicht alleine da.

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