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Der Engel schwieg 43 Jahre lang

Der erste Roman von Heinrich Böll erscheint im August dieses Jahres  ■ Von Stefan Koldehoff

Das Personalamt der Stadt Köln war voll des Lobes über seinen freien Mitarbeiter, der dem Statistischen Amt für die Arbeiten der Volkszählung 1950 zugeteilt wurde: Der 33jährige wurde „allen Anforderungen — auch bei schwierigen Sonderaufgaben — gerecht. Seine Leistungen waren sehr gut, sein dienstliches Verhalten war einwandfrei. Außerdienstlich ist nichts Nachteiliges über ihn bekanntgeworden.“

Ein anderer Arbeitgeber war zum selben Zeitpunkt weit weniger zufrieden mit den Leistungen Heinrich Bölls. Der Opladener Verleger Friedrich Middelhauve hatte bereits einen Band Kurzgeschichten des noch weitgehend unbekannten späteren Nobelpreisträgers veröffentlicht und Böll im Rahmen eines Generalvertrages gar einen Vorschuß von 1.500 Mark ausbezahlt, als ihm am 17.August 1950 das versprochene erste Romanmanuskript seines Autors auf den Schreibtisch kam. Schon im September 1949 hatte Böll mit seiner Niederschrift begonnen. Vor allem wirtschaftliche Gründe zwangen den Kriegsheimkehrer dann aber immer wieder, die Arbeit zu unterbrechen, um Geld zu verdienen: Eine Familie mit inzwischen drei kleinen Kindern wollte ernährt werden. So entschloß sich der Vater notgedrungen unter anderem zur Arbeit für die Kölner Stadtverwaltung.

Als der Roman im Sommer 1950 dann doch fertig geworden war, paßte er dem konservativen FDP-Politiker Middelhauve ganz und gar nicht ins verlegerische Konzept. Mehrere Male fuhr Böll von Köln aus ins nahe Opladen, um hier mit seinem Verleger das Manuskript zu diskutieren. Middelhauve hatte auf einem Thema bestanden, das dem staatstragenden Zukunftsoptimismus der beginnenden Ära Adenauer und dem Wirtschaftswunder entsprach — Elends-, Kriegs- und Trümmerschilderungen waren nicht gefragt.

Böll aber mochte nicht mitspielen. Seine eigenen Erfahrungen mit der Restauration der Nachkriegszeit und den materialistischen Auswirkungen der Währungsreform projizierte er in die Romanhandlung des Jahres 1945 zurück. Im Mai dieses Jahres kehrt der junge Soldat Hans Schnitzler ohne Mantel und ohne Paß aus dem Krieg zurück in seine Heimatstadt, die — obwohl namentlich nicht genannt — unschwer als Köln zu erkennen ist. Im Gepäck trägt er das Testament eines Kameraden, der sich für Schitzler geopfert hatte, als der kurz vor Kriegsende wegen „Fahnenflucht“ standrechtlich erschossen werden sollte. Als dessen Witwe das hinterlassene Vermögen an die Armen verteilen will, ficht die Familie des Toten dessen letzten Willen als Dokument einer „irregeleiteten Nächstenliebe“ an. Sie benötigt sein Geld dringend für den Aufbau des Familienbetriebs. Die skrupellose EgoistInnenclique bekommt zum Schluß das Testament tatsächlich in die Hand, verbrennt es und steht bei der Beerdigung der Soldatenwitwe schließlich symbolisch auf einem Engel, den sie in Schmutz und Schlamm tritt. „Kinder des Lichts“ wollte Böll seinen Roman zunächst nach jenen Lichtgestalten betiteln, die einmal mehr unterliegen. Später entschied er sich für Der Engel schwieg. Veröffentlicht wird das Buch erst im Sommer — mehr als vier Jahrzehnte nach seiner Entstehung.

Als Middelhauve Anfang 1951 mit der Veröffentlichung des so gar nicht ins geforderte Zeitgeistschema passen wollenden Manuskriptes noch immer zögerte, lieferte der Autor zunächst noch zwei Nachträge als neues erstes und vorletztes Kapitel ab. Trotzdem wurde nicht gedruckt: Brieflich forderte Böll sein Werk daraufhin am 26.Juli zurück, um sieben Passagen daraus in veränderter Form Rundfunk- und Zeitungsredaktionen anzubieten. Ein Teil des Romans fand so doch schon früh seinen Weg in die Öffentlichkeit — ein kleiner Teil allerdings. Die Episode Die Liebesnacht etwa wies der NWDR am 6.August 1951 mit der pikierten Bemerkung zurück, der Text sei seinen Hörerinnen und Hörern „nicht zumutbar“.

„Bisher ist in der Forschungsliteratur immer vor allem der Einfluß bis 1945 in Deutschland verbotener Autoren wie Hemingway, Wolfe, Faulkner oder O. Henry herausgestellt worden. Dieser Einfluß der amerikanischen Short Story ist auch grundsätzlich nicht zu leugnen“, kommentiert der Wuppertaler Germanistikprofessor Dr.Werner Bellmann. „Das Beispiel Böll zeigt jetzt aber ganz deutlich, daß nicht zuletzt auch pragmatische Erwägungen zur Bevorzugung der kurzen Prosaformen und damit zu ihrer dominanten Stellung in der deutschen Nachkriegsliteratur führten. Das Medium Zeitung etwa bot sich für diese Schriftstellergeneration, die Geld verdienen mußte, einfach an.“

Gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Bergischen Universität/Gesamthochschule Wuppertal zeichnet Bellmann jetzt editorisch verantwortlich für die Herausgabe des ersten Böll- Romans aus dem Nachlaß. In der 1989 eingerichteten und von ihm dort geleiteten „Heinrich Böll-Forschungsstelle“ wurde vorbereitet, was der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch im August veröffentlicht. Nachdem das ursprüngliche Romanmanuskript nach seiner teilweisen Zweitverwertung zunächst in Bölls Schublade und nach seinem Tod dann mit dem Nachlaß ins Historische Archiv der Stadt Köln gewandert war, entschlossen sich die Erben jetzt zur Publikation von Der Engel schwieg zum 75. Geburtstag des 1985 Verstorbenen.

Daß die Wuppertaler LiteraturwissenschaftlerInnen, die in enger Abstimmung mit dem noch von Böll selbst testamentarisch eingesetzten Gremium auch die auf 25 Bände angelegte kritische Gesamtausgabe seines Oeuvres vorbereiten, über umfassende Kenntnisse von Werk und Arbeitsweise Bölls verfügen, machte die posthume Veröffentlichung überhaupt erst möglich. Nur mit Hilfe von Notizbucheintragungen, der Korrespondenz des Schriftstellers und mit ganz viel Fingerspitzengefühl konnte die Rekonstruktion der bisweilen hektisch getippten neunzehn Originalkapitel gelingen. Während etwa die ursprünglich als eigenständige Kurzgeschichte konzipierte Episode Die Postkarte vom Autor zunächst doch in den Roman eingefügt und später wieder herausgenommen und separat publiziert wurde, fehlte im Böll-Nachlaß der Eingangsabschnitt des Anfangskapitels von Der Engel schwieg vollständig und war nirgends aufzufinden. Vertraut mit Bölls Eigenheiten in Produktion und Publikation, gelang es den Wuppertaler GermanistInnen dann aber schließlich doch, dem verschollenen Fragment auf die Spur zu kommen. Werner Bellmann und seine MitarbeiterInnen waren auf den Gedanken gekommen, die dem Middelhauve Verlag separat gelieferte Ergänzung unter den zu jener Zeit publizierten Kurzgeschichten zu suchen. Und tatsächlich fügte sich das am 17.August 1951 von der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ als „Skizze“ abgedruckte Prosastück Bölls wie ein Mosaiksteinchen an den Anfang des kopflosen Manuskripts.

Der Engel schwieg markiert den Neuanfang der Böllschen Kritik am opportunistischen Verdrängen der Vergangenheit, an der Entwicklung des deutschen Nachkriegskatholizismus und generell an den restaurativen Tendenzen der deutschen Nachkriegszeit“, ordnet Werner Bellmann die Bedeutung des ersten Romans literaturgeschichtlich ein. In einem Nachwort zur Buchausgabe geht er auch auf die Bedeutung der eigenen sozialen Situation für Bölls Literaturproduktion ein. „Schon 1949 sind viele Themen und Motive vorhanden, die bislang nur in späteren Werken zu finden waren: Figuren wie die ihren Besitz mit Vehemenz verteidigenden und vermehrenden Christen etwa, die dualistische Figurenkonstellation oder die grelle Beleuchtung von sozialen Widersprüchen.“

Ganze Passagen übernahm Böll in den 1952 enstandenen und ein Jahr später veröffentlichten Roman Und sagte kein einziges Wort. In vielfacher Hinsicht kann der neue alte Roman, so folgert Bellmann wieter, als „Ausgangspunkt für den sogenannten ,Fortschreibungsprozeß‘ des Dichters“ gelten. Mit diesem Begriff bezeichnete Heinrich Böll seine literarische Vorgehensweise, ihm wichtige Themen kritisch durch die Zeitläufe der sich entwickelnden Bundesrepublik zu verfolgen, sie immer wieder neu auf ihren aktuellen Gehalt hin zu untersuchen und in variierter Form zu durchdringen. Die Ansichten eines Clowns bestätigen 1963 seine schon 1949 formulierte Kritik am Nachkriegskatholizismus und der Verdrängung der Schuld. Beide Jahre markieren zugleich Ende und Anfang der Regierungszeit Konrad Adenauers.

Obwohl gerade Der Engel schwieg deutlich belegt, wie das sozial notvolle Sein des Familienvaters Heinrich Böll sein Bewußtsein als zeitkritischer Autor prägte, hat er selbst sich immer gegen die Literarisierung des eigenen Lebens ausgesprochen. Zu den von ihm selbst wieder gestrichenen Romanpassagen im Engel gehört deshalb auch eine über die materiellen Nöte eines Schriftstellers. Der Entwurf zum Thema „Geld und Arbeit“, der auch seine Auseinandersetzung mit der von Léon Bloy vertretenen Unvereinbarkeit von Christentum und Reichtum dokumentiert, schien dem Katholiken Heinrich Böll zu autobiographisch.

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