„Ich schäme mich, daß ich nur noch so wenig weiß“

■ Vier Jugendliche sind angeklagt, den Sturz zweier Namibier vom Balkon eines Wohnheims verursacht zu haben

Perleberg (taz) — An manches erinnert er sich ja, im Sitzungssaal des Kreisgerichts Perleberg. Zum Beispiel daran, daß er am 2.Mai 1991 in der Disco gewesen war und daran, daß er „ziemlich erbost gewesen war, wie der junge Deutsche aussah: aufgeschlitzte Wange, der Finger halb ab“. Ein Namibier sollte das gemacht haben. „Wir wollten die Leute zur Rechenschaft ziehen, sie verprügeln, aufmischen“, sagt Guido G., der mit drei anderen wegen gefährlicher Körperverletzung, Nötigung und schweren Hausfriedensbruchs angeklagt ist. Es sollte so eine Art „Revanche“ werden, als er zusammen mit 20 bis 35 Deutschen zum Wohnheim der Namibier fuhr. Guido G. erinnert sich auch daran, daß es im vierten Stock „laut und heftig war“, daß „herumgeschrien wurde“. Er will auch in der Balkontür gestanden haben, keineswegs aber auf dem Balkon. Dorthin hatten sich die Namibier geflüchtet, nachdem immer mehr Deutsche sie im Zimmer bis ans Fenster gedrängt hatten, ein Messer geflogen war und einer der Deutschen mit einer Gaspistole herumgefuchtelt hatte. „Ich wollte gucken, was die auf dem Balkon machen“, sagt Guido G., dann habe er einen Aufprall gehört. Seine Mitangeklagten Sven Sch. und Heiko G. stieren starr auf den Boden, als der Zeuge Bernd Georgi, der Arzt, der die beiden namibischen Jugendlichen Jona und Lukas in Wittenberge zuerst behandelte, von den grauenhaften Verletzungen berichtet. Zehn bis 12 Operationen hat Jona bereits hinter sich. Er kommt auf Krücken in den Gerichtssaal: „Einer kam mit einem Messer auf mich zu, mit dem anderen Arm hat er mich nach hinten gedrückt.“ Sicher ist Jona sicher, daß er nicht von selber gesprungen ist. Nur ob es „hundertprozentig“ der Blonde, Heiko G., war, das weiß er nicht so genau. Heiko G. antwortet, er sei lediglich mitgegangen, „um zu sehen, was passiert. Aus Neugier.“ Er redet von dem Vorgehen im Wohnheim so, als habe er darüber nur etwas von anderen gehört. „Ich gehe davon aus, ich nehme an, daß die Massen die Namibier gedrängt haben. Die Namibier sind vom Balkon gedrängt worden, aber ich hab's nur gehört, nicht gesehen.“ Obwohl er vorn in der ersten Reihe gestanden hat. Auf die Frage des Rechtsanwalts Christoph Kliesings: „Schämen Sie sich eigentlich?“, antwortet Heiko G.: „Ich schäme mich, daß ich nur noch so wenig weiß.“ Nach sechsstündiger Verhandlung stellt Kliesing den Antrag, das Verfahren auszusetzen und an die Schwurgerichtskammer Potsdam weiterzuleiten. Begründung: Alle vier Angeklagten hielten sich auf dem Balkon auf und sind deshalb auch des versuchten Mordes beziehungsweise des versuchten Totschlags verdächtig. Das Gericht entscheidet, das Verfahren an die Jugendkammer in Potsdam zu geben, weil ein hinreichender Tatverdacht zum versuchten Totschlag besteht. M. Gericke