Romeo und Gabriele

Vor Gericht werden West-Mitarbeiter der DDR-Spionage ungleich härter bestraft als Offiziere der ehemaligen Staatssicherheit  ■ Von Wolfgang Gast

Berlin (taz) — Die Verlierer im früheren deutsch-deutschen Spionagegeschäft sind eindeutig die Altbundesbürger, die im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) West-Geheimnisse an die DDR verraten haben. Verglichen mit den Mitarbeitern des Mielke-Ministeriums werden sie zu wesentlich höheren Freiheitsstrafen verurteilt. Schillerndes Beispiel: der Pilotprozeß gegen den Leiter der Stasi-Spionageabteilung IX (Fremde Dienste), Harry Schütt, vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht. Während der Stasi-Offizier nach der Urteilsverkündung im November das Münchner Gerichtsgebäude mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verließ, wanderte der von ihm geführte frühere BND-Mitarbeiter Alfred Spuhler wieder hinter Gitter. Spuhler, der über Jahre „menschliche Quellen“ und BND-Interna an den Geheimdienst von Markus Wolf verraten hatte, wurde wegen Landesverrats zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt.

Ähnlich unterschiedlich fielen später vor den gleichen Richtern die Urteile im Verratsfall der BND-Mitarbeiterin Gabriele Gast aus. Die promovierte Politologin brachte es beim Pullacher Geheimdienst bis zur Regierungsdirektorin. Bis zu ihrer Enttarnung und Verhaftung im Oktober 1990 diente sie 17 Jahre dem MfS als Topinformantin. In Wolfs Geheimdienst war die von ihr beschaffte „Kanzlerlage“ besonders begehrt — eine schriftliche Zusammenstellung, in der der Pullacher Dienst den Kanzler regelmäßig über die weltweit neuesten Erkenntnisse des BND informierte. Gabriele Gast wurde per „Romeo-Strecke“ angeworben: Der Stasi-Mann Karl-Heinz Schneider, der sich ihr als „Karlheinz Schmidt“ vorstellte, beteuerte ihr seine Liebe, und beide verlobten sich. Wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit wurde die Spionin vom Bayerischen Obersten Landesgericht zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt. „Romeo“ Schneider erhielt dagegen eine Bewährungsstrafe von 18 Monaten. Der MfS-Oberst, der nicht nur die Treffen zwischen Gast und Schneider organisierte, sondern auch die zwischen der Kundschafterin und ihrem obersten Geheimdienstchef Markus Wolf, erhielt eine Bewährungsstrafe von einem Jahr. Der von der „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) geworbene Helfer aus dem Westen, Lothar Müller, der die beschafften Dokumente auf den Weg in die DDR brachte, erhielt dagegen zwei Jahre auf Bewährung.

Wochen später verurteilte das Düsseldorfer Oberlandesgericht den früheren Mitarbeiter des Kölner Bundesamtes für Verfassungsschutz, Klaus Kuron, wegen schweren Landesverrats in Tateinheit mit Bestechlichkeit zu zwölf Jahren Haft. Kuron, zuständig für die Spionageabwehr und die Führung von Doppelagenten im Bundesamt, erhielt nach 1981 (als er von sich aus dem MfS seine Mitarbeiter anbot) von Wolfs Agenten für seine Maulwurftätigkeit mindestens 692.000 Mark. Kuron verriet so ziemlich alles, was ihm dienstlich bekannt wurde; durch seine Berichte wurden mindestens fünf vom Verfassungsschutz in Dienst genommene DDR- Bürger verhaftet, darunter auch der Kreisschulrat und SED-Funktionär Horst Garau. Der Inoffizielle Stasi- Mitarbeiter wurde vom Kölner Verfassungsschutz als Doppelagent unter Vertrag genommen. Drei Jahre nach seiner Enttarnung starb Garau unter ungeklärten Umständen im Zuchthaus Bautzen. Das Urteil des 4.Strafsenats gegen Kuron sollte zur „allgemeinen Abschreckung dienen“, betonte der Vorsitzende Richter Klaus Wagner. Die Summe der Kuron zur Last gelegten Anschuldigungen erfülle nicht nur den Tatbestand der „geheimdienstlichen Agententätigkeit“, die mit einer Höchststrafe von zehn Jahren verfolgt werden könne, sondern die des Landesverrats. Um so erstaunlicher ist, daß Kurons Führungsoffiziere, der 1953 geborene Major der Hauptverwaltung Aufklärung, Stefan Engelmann, und sein 20 Jahre älterer Kollege Gunther Nehls, bislang nicht belangt wurden.

Streng juristisch ist der unterschiedliche Umgang mit den Agentenführern mit Sitz in Ost-Berlin und deren angeworbenen Mitarbeitern aus dem Westen gerechtfertigt. Wer sich als Bürger der Bundesrepublik von der Stasi anwerben ließ, tat dies mit Wissen und Bewußtsein, daß er strafrechtlich belangt werden kann. Im Fall der MfS-Agenten, erkannte dagegen beispielsweise der Vorsitzende des Staatsschutzsenats beim Bayerischen Obersten Landesgericht an, haben die HVA-Männer im Dienste der DDR gehandelt und ihre Pflicht getan — eine Motivation, die dem Gericht „ehrenwert und nicht ehrenrührig“ erschien. Für die Mitarbeiter mit altrepublikanischem Paß gilt dies nicht: „Es ist ein Unterschied, ob Agententätigkeit unter dem Schutz unseres Rechtsstaates geschah — dann ist das gewöhnliche Kriminalität — oder ob ein anderer für seinen Staat etwas getan hat.“

In Düsseldorf und München werteten die Gerichte die Spionagetätigkeit der DDR-Bürger vom Boden der DDR aus trotzdem als Straftaten. Sie stützten sich dabei auf zwei Entscheidungen des Bundesgerichtshofes (BGH), der deren Strafverfolgung für rechtens erklärt hat. Der BGH argumentierte im Kern, daß die Nachrichtendienste der Bundesrepublik— auch wenn sie selbst eine operative Auslandsaufklärung betreiben — letztlich zu deren Schutz tätig werden. Demgegenüber habe die Spionagetätigkeit des Staatssicherheitsdienstes der DDR zur Gefährdung der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik geführt, die möglicherweise noch heute fortwirke.

Die Rechtsauffassung des BGH ist umstritten. Im Verfahren gegen den Nachfolger von Markus Wolf, Werner Großmann, und vier seiner engsten Vertrauten wertete das Berliner Kammergericht die Verfolgung der DDR-Geheimdienstmitarbeiter als verfassungswidrig. Die Strafverfolgung der Ex-DDR-Spione bei gleichzeitiger Straflosigkeit bundesdeutscher Agenten verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Eine Bewertung, urteilten die Berliner Richter, ob eine Spionagetätigkeit „offensiv“ oder „defensiv“ ausgeübt worden sei, lasse sich „rechtlich nicht fassen“. Das Verfahren gegen Großmann und Kollegen wurde ausgesetzt — das Kammergericht rief das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe an. Dessen Urteil ist frühestens Mitte, eher aber Ende des Jahres zu erwarten.

Ungeachtet der ausstehenden Entscheidung hat die Karlsruher Bundesanwaltschaft eine regelrechte Prozeßlawine im Bereich der Spionage losgetreten. 1989 waren noch 312 Verfahren wegen „Straftaten gegen die äußere Sicherheit der Bundesrepublik“ eingeleitet worden, im vergangenen Jahr bereits 1.229. Und allein bis zum 20. Mai wurden bereits 851 Verfahren eingeleitet. Es werden noch mehr werden. Vierhundert „hochrangige Quellen“ in Behörden und Institutionen der Altbundesrepublik, vermuten Verfassungsschützer und Bundesanwälte, sind immer noch nicht enttarnt. Die Gesamtzahl der „abzuarbeitenden Fälle“ schätzt die Bundesanwaltschaft auf zwischen 3.000 und 4.000.

Wie die Entscheidung der Karlsruher Verfassungsrichter auch ausfallen wird — für Mielkes Helfer aus dem Westen wird sie keine Bedeutung haben. Die Rechtslage ist eindeutig: Wer als Bürger der alten Bundesrepublik für die Stasi spioniert hat, hat gegen die Bestimmungen der Staatsschutzparagraphen verstoßen. Sollten die Karlsruher Richter der Auffassung des Berliner Kammergerichts folgen und die einseitige Verfolgung der Ost-Agenten als verfassungswidrig bewerten, müßten die Urteile gegen die Mitarbeiter der HVA aufgehoben und die laufenden Ermittlungsverfahren eingestellt werden. An das Legalitätsprinzip gebunden, würden die Gerichte dann ausschließlich die West-Helfer zu langjährigen Strafen verurteilen.