: Unabhängig, westlich und vereinigt
Der mutmaßliche Sieger bei den ersten freien Wahlen in Aserbaidschan, Ebulfez Elcibey, propagiert eine Annäherung an den Westen und die Türkei/ Die Wahlbeteiligung: 74 Prozent ■ Aus Baku Ömer Erzeren
Die Hochschullehrerin Mirvari Naibova Kayyankizi vom Frauenverband für die „Verteidigung der Frauenrechte“ verheimlicht nicht ihren Enthusiasmus: „Es ist unglaublich. Seit 70 Jahren die ersten freien und demokratischen Wahlen in Aserbaidschan.“ Auch 1991, bei der Wahl Muttalibovs zum Präsidenten — er war der einzige Kandidat —, war sie in einer Wahlkommission. 84 BürgerInnen hatten damals an ihrer Wahlurne den Stimmzettel abgegeben. In den amtlichen Wahlergebnissen wurde allerdings von 972 WählerInnen gesprochen. „Ich habe damals protestiert. Doch die Wahlmanipulation war von oben angeordnet. Da war nichts zu machen.“
Bei den jetzigen Präsidentschaftswahlen ist das anders. Kandidaten unterschiedlicher politischer Couleur waren während des Wahlkampfes gegeneinander angetreten. Es gab politische Diskussionen und hitzige Wortgefechte zwischen den Kandidaten. Was aber viel wichtiger ist: die öffentliche Kontrolle, sowohl bei den Wahlen als auch bei der Auszählung. Jede JournalistIn, ausländische WahlbeobachterIn und interessierte BürgerIn kann bei der Auszählung dabeisein.
Immer wieder werden Wahlzettelhaufen durchgezählt. Auch in der Bakuer Schule Nr. 190 im 2. Bezirk Sebail, Wahllokal Nr. 8. Hier hat Volksfront-Kandidat Ebulfez Elcibey 637 Stimmen erhalten, gefolgt von Nizami Süleymanov mit 447 Stimmen. Unter den 85 ungültigen Stimmen sind teils skurrile Meinungsäußerungen anzutreffen. „Ich gebe meine Stimme nur der Sowjetunion und den Kommunisten“, steht zum Beispiel auf einem Wahlzettel in russisch. Die vielen Stimmen für Süleymanov, die er in den meisten Wahlbezirken erhalten hat, sind eine Überraschung — ein Streich der Demokratie. Noch vor einer Woche war Nizami Süleymanov vom „Demokratischen Bündnis der Intellektuellen Aserbaidschans“ ein Unbekannter. Ganz im Gegensatz zu Elcibey, der der Führer der antisowjetischen Dissidentenbewegung war. Doch Süleymanov setzte sich als Politclown in Szene. Im Fernsehen versprach er das Blaue vom Himmel: „Brot für 90 Kopeken“ und die „Säuberung Berg-Karabachs binnen drei Monaten von Armeniern“.
Die Befürchtung, daß viele — deprimiert vom innenpolitischen Chaos und Krieg — nicht zu den Urnen gehen würden, hat sich nicht erfüllt. In dem Präsidentenpalais in Baku verkündet der Vorsitzende des Wahlausschusses, Cafer Velijew, bereits um 16 Uhr hätten 62 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Noch heute trägt das Gebäude Spuren der bewaffneten Auseinandersetzungen nach Muttalibovs Coup d'Etat: Überall liegen Glasscherben am Boden, die Außenwänden sind mit Einschußlöchern übersät.
Nach der Schließung der Wahlurnen nennt Velijew sogar eine Wahlbeteiligung von 74 Prozent. Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, daß Volksfront-Chef Ebulfez Elcibey bereits im ersten Wahlgang über 50 Prozent der Stimmen erhalten hat und somit Präsident Aserbaidschans wird. Der nationalistische Ideologe Ebulfez, so hat er es vor der Wahl bereits lautstark von sich gegeben, will den Einfluß Rußlands in Aserbaidschan zurückdrängen. Er spricht sich gegen eine Mitgliedschaft Aserbaidschans in der GUS aus und besteht auf einer eigenen Armee und einer eigenen Währung. Weiter propagiert er die Annäherung an den Westen und die Türkei. Ebulfez ist ein erbitterter Gegner islamisch-fundamentalistischer Strömungen und des Regimes in Teheran. Langfristig strebt er eine Vereinigung Aserbaidschans mit den im Iran lebenden Aserbaidschanern an.
Doch trotz freier Wahlen haben sich viele liebgewonnene Gewohnheiten in Aserbaidschan nicht geändert. Die Auszählung dauert länger als erwartet. Doch Cafer Veliyev verweist auf das Wahlgesetz, wonach er eine Zehntagefrist hat, um die amtlichen Wahlergebnisse bekanntzugeben. Er läßt sich nicht darauf ein, vorläufige Ergebnisse zu verkünden. So bleibt auch der Wahlsieg Elcibeys vorläufig ein mühseliges Hochrechnungskonstrukt von Journalisten.
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