: Auch ohne Minderheitenrecht nicht rechtlos?
Die Menschen- und Minderheitenrechte in Deutschland und Osteuropa nach der Wende/ Eine Bestandsaufnahme an der Universität Potsdam ergibt ein unbefriedigendes Bild/ Rechtlich ist vieles in der Schwebe ■ Aus Potsdam Christian Semler
Mensch sein heißt Träger eines Passes zu sein. Diese Klärung der Identität vorausgesetzt, kann zur Definition der Menschen- und Minderheitenrechte sowie ihres gegenseitigen Verhältnisses geschritten werden. Ein Kreis erlauchter europäischer Juristen, Gerichtspräsidenten, Professoren und Ministerialbeamter hatte sich am Wochenende in Potsdam versammelt, um über den Stand der Menschen- und Minderheitenrechte in Osteuropa zu debattieren.
Die Tagungsstätte zu Babelsberg, ein Nazi-Bau der feineren Art, hatte vor der Wende die rechts- und staatswissenschaftliche Akademie der DDR beherbergt. Von deren mehrhundertköpfigem Lehrpersonal haben sich freilich nur zwei Dutzend in die neu gegründete juristische Fakultät der Universität Potsdam herüberretten können und auch das nur auf Zeit und auf subalternen Posten. Auch seitens der aus den neuen Ländern der BRD angereisten Juristen hörte man das Bayrische oder Schwäbische weit häufiger als die angestammten Idiome. Ureinwohner waren nur unter den Studenten auszumachen. Sie schmierten Brötchen, machten sich über unsere neue Justizministerin lustig und griffen sogar, zum Beispiel zugunsten der sorbischen Minderheit oder der Befugnisse des Europäischen Parlaments, in die Diskussion ein. Vielfach wurde der Geist des Müllers von Sanssouci beschworen, wurde auf die rechtsstaatlichen Traditionen des alten Preußen rekurriert. So aufsässig wie jener Müller gegenüber seinem König Friedrich erwies sich die Konferenz gegenüber der Staatsgewalt allerdings auch wieder nicht.
Die Tagung gliederte sich in einen Länderbericht zu den Menschenrechten in Osteuropa und in eine instruktive, wenngleich in ihren Ergebnissen bedrückende Diskussion zum Stand des Minderheitenschutzes. Für Polen konnte sich Zdizlav Kedzia, Direktor des Menschenrechtszentrums in Poznan, ohne große Schwierigkeiten aus der Affäre ziehen. Nach der demokratischen Wende 1989 hat das polnische Parlament umfassend die Grundrechte garantiert und in Verwaltungs- wie Verfassungsstreitigkeiten den Rechtsweg gesichert. Die Europäische Konvention für Menschenrechte, der Polen beigetreten ist, wirkt als unmittelbar geltendes Recht. In zwei wichtigen Fällen, Haftbefehle durch die Staatsanwaltschaft und Verhängung von Abschiebehaft durch den Woiwoden, wurde geltendes Recht als verfassungswidrig aufgehoben. In Polen läuft zur Zeit eine intensive Diskussion über den Menschenrechtskatalog in der neuen, noch zu beschließenden Verfassung.
Parallel zur konservativen Grundströmung in der polnischen Gesellschaft zeigt sich die Juristerei spröde gegenüber sozialen Grundrechten, der Sozialbindung des Eigentums und gegenüber der Möglichkeit von Verbandsklagen vor dem Verfassungsgericht. Dieser restriktiven Grundstimmung entspricht es, daß das 1987 geschaffene Amt des Bürgerrechts-Ombudsman/-frau, bis vor kurzem wahrgenommen von der unerschrockenen Professorin Letowski, zunehmend unter Beschuß steht.
War Polen ein Beispiel für den grosso modo erfolgreichen Übergang der ostmitteleuropäischen Staaten zum Rechtsstaat, so zeigt Rußlands Beispiel die schier unüberwindlichen Schwierigkeiten, die nach wie vor dem Grundrechtsschutz im Wege stehen. Auch in der russchen Föderation gilt jetzt ein umfassender Grundrechtskatalog, auch hier sind internationale Verträge wie die Menschenrechtspakte der UNO unmittelbar geltendes Recht. Im Gegensatz zu Polen steht die Eigentumsgarantie unter zahlreichen Vorbehalten, und soziale Grundrechte existieren en masse, was allerdings eher der vorherrschenden Mentalität der Sozialverteidigung entspricht als einem ökologisch geläuterten Grundrechtsverständnis.
Das Problem liegt nach den Worten Konstantin Scheremets, des Berichterstatters, nicht bei den Normen, sondern bei deren Verwirklichung. Wem nutzt das für Rußland neue und revolutionäre Grundrecht der Freizügigkeit, wenn nach wie vor kein Gesetz über Auslandsreisen erlassen ist? Wie ist der Wust grundrechtswidriger Verordnungen und Erlasse zu bewältigen? Wie kann man das Ansehen der Gerichte verbessern, die zu Recht als Hochburg unverbesserlicher Nomenklaturisten gelten?
Die alle Poren der Gesellschaft durchdringende Gesetzlosigkeit verurteilt die ausgefeilten Menschenrechtskataloge zu einer bloß deklaratorischen Schattenexistenz. Ein Teilnehmer der Konferenz stellte die bange Frage: Sind Menschenrechte nur für Schönwettergesellschaften geschaffen?
Das Podium über Minderheitenrechte in Europa offenbarte einen Rechtszustand, der auf der Ebene internationaler Institutionen am treffendsten mit „Tabuisierung“ beschrieben werden kann. Peter Leuprecht, Direktor für Menschenrechte beim Europarat, schilderte in einem engagierten Referat den bislang vergeblichen Kampf um den Abschluß eines Zusatzprotokolls, das die Minderheitenrechte zum Bestandteil der Europäischen Konvention für Menschenrechte machen soll. Er gehört einem Leitungskomitee an, das Mechanismen zur Konfliktbeilegung, Schutzgesetze und vertrauensbildende Maßnahmen ausarbeitet. Leuprecht stellte klar, daß ein Schiedsgericht für Minderheitenfragen beim Straßburger Europarat binnen weniger Monate hätte eingerichtet werden können. Aber das Projekt wurde suspendiert — mit Rücksicht auf die parallelen Anstrengungen der KSZE-Konferenz in Helsinki. In Helsinki aber blockieren die gleichen Mächte, wie z.B. Frankreich, die die Suspendierung durchgesetzt hatten, jeden praktischen Lösungsansatz.
Sind Minderheitenrechte Kollektiv- oder Individualrechte, können sie also von Gruppen oder nur von einzelnen eingeklagt werden? Die Mehrzahl der westlichen Juristen auf der Konferenz beharrte darauf, daß nur Individuen berechtigt seien. Von seiten der „östlichen“ Experten, insbesondere des ungarischen Juristen Kaltenbach, wurde dagegen eingewandt, Fragen, die die gemeinsame Kultur und Sprache beträfen, verwiesen systematisch auf ein Kollektiv — man könne eben nicht als Individuum Ungar oder Deutscher sein. Die gesamte Diskussion war überschattet von der Angst, Minderheitenrechte würden im Zweifel das Recht der Selbstbestimmung, mithin auf Sezession, einbeziehen. Kann eine Pflicht der Minderheit zur Loyalität gegenüber dem Staat, quasi als Gegenleistung, erwartet werden, oder gelten Minderheitenrechte ebenso absolut wie Menschenrechte? Eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu bearbeiten, liegt nach den Worten Kaltenbachs in der Kombination lokaler bzw. regionaler Autonomie mit „funktionalen“ Rechten auf Landesebene, die auch Bestimmungen „positiver Diskriminierung“ enthalten könnten.
Fast alle Diskussionsteilnehmer stimmten in der fragwürdigen These überein, Mitglied der Minderheit könne nur sein, wer Staatsangehöriger der Mehrheitsnation sei. Damit zogen sich die Juristen auf den bequemen Hochsitz zurück, der nur den Blick auf die angestammten Volksgruppen freigibt. In Deutschland wären dies die Dänen und Sorben, nach Meinung des Brandenburger Regierungsvertreters (immer eine Spur fortschrittlicher als der Rest) auch die Friesen, die „deutschen“ Roma und — falls sie es wünschten — die deutschen Juden. Damit wurden mögliche Kollektivrechte für den „Rest“, d.h. die Millionen der neuen Minderheiten, vor allem der Arbeitsimmigranten, vom Tisch gewischt. Sie verwies der Sprecher des Justizministeriums der BRD, Meyer-Ladewig, auf den allgemeinen Menschenrechtsschutz des Grundgesetzes. „Wer keine Minderheitenrechte hat, ist deswegen nicht rechtlos.“ Einfalt oder Zynismus?
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