: Neudeutsche Vulgärpsychologie
■ betr.: "Explosiv - Der heiße Stuhl: Dicker ist schicker", RTL plus, 2.6.92
Betr.: „Explosiv — Der heiße Stuhl: Dicker ist schicker“, RTLplus, 2.6.92, 22 Uhr
„Der heiße Stuhl“ ist eine Sendung, in der ausgiebig Gelegenheit besteht, dem Volk aufs Maul zu schauen, und was man dabei zu sehen bekommt, ist hin und wieder noch ärger, als in anderen Plauschsendungen. [...] „Dicker ist schicker“, lautete das Thema. Eine „übergewichtige“ Frau kritisierte die Norm des Schlankseins in unserer Gesellschaft, und was ihr entgegenschlug, war blanker Rassismus: 1.Sie müsse doch Probleme mit Männern haben, meinte ein smarter Unternehmensberater, also er jedenfalls würde nicht mit ihr... (worum ihn auch niemand gebeten hatte). 2.Sie könne sich doch gesundheitlich nicht wohlfühlen, meinten die Konjunktur-Feministinnen Christine Kaufmann und Petra Schürmann, und mit Norm habe ihr Schlanksein sowieso nichts zu tun, sondern nur mit Gefühl (das wohl vom Himmel gefallen kommt und sich jenseits von Normen bewegt?), 3.aber würde ein Herr Psychologe, wenn er die Entscheidung zu treffen hätte, „jemanden wie Sie nicht einstellen, weil Dicksein ein Zeichen von Undiszipliniertheit ist“ und man sich fragen müßte, auf welchen Gebieten das denn bei ihr noch zuträfe. Allgemeines Kopfnicken.
Wie wär's denn als nächstes mit krummen Nasen als Neigung zu Spitzeltätigkeiten (von wegen ausgeprägtem Geruchssinn), Kurzsichtigkeit als Zeichen von Ignorantentum (Nicht-Sehen-Wollen) und schwarzen Haaren als Zeichen von Falschheit (befindet sich das organisierte Verbrechen nicht vornehmlich in Ausländerhänden südlicher Herkunft?)?
Daß so gut wie jeder Mensch seine Undiszipliniertheiten entwickelt (zum Glück!), ist dieser neudeutschen Vulgärpsychologie ebenso fremd wie die Frage, ob ein weitestgehend disziplinierter Mensch sozial überhaupt noch erträglich wäre.
Doch in einem nach Yuppie- Weisheiten zurechtgeschusterten Minikosmos, in dem jeder seines Glückes und seines Körpers Schmied ist, kennt man 1992 disziplinierte und undisziplinierte Menschen, und zu welcher Sorte jemand gehört, sieht man ihm an (wozu hätte uns sonst der liebe Gott ein Aussehen gegeben?).
Ich habe gerade einen Aufsatz aus dem Jahr 1942 vor mir liegen. Verfaßt von einem Dr.E.Bornemann aus Dortmund, überschrieben „Zur Schulung des Menschenblicks“, in dem den Mitarbeitern der Arbeitsämter ein „Beobachtungsbogen zur Personalbeurteilung“ an die Hand gegeben wurde. Da hieß es zum Beispiel unter „I.Benehmen und Verhalten anderen gegenüber: Sicher, bestimmt, gefestigt“ auf der Positivseite, und „vorsichtig, scheu, ängstlich, unsicher, gehemmt“ auf der Negativseite. Und unter „II.Haltung und Gesichtsausdruck: stramm, gestrafft“ auf der einen und „salopp, lässig, schlaff, schlaksig“ auf der anderen Seite.
1968 hatten wir von solchem Unsinn die Nase voll, allzu viele aber wohl nur kurzfristig; denn von jener „Schulung des Menschenblicks“, die schon damals de facto keine „Schulung“, sondern ein Verbreiten von dümmlichen Klischees war, bis zum Körpersprache-Mythos in den Siebzigern, war nur ein kleiner Schritt: Ausgewachsene Menschen, die bisher anscheinend blind gewesen waren, begannen wie Neugeborene festzustellen, daß der Mensch nicht nur das Wort, sondern auch Gestik und Mimik als Ausdrucksmittel zur Verfügung hat! Solch tiefsinnige Erkenntnis bedurfte eines neuen Wortes, und flugs wurde der gute alte Gestus zur „Körpersprache“ umbenannt. Womit gleichzeitig suggeriert wurde, daß der Körper eine ebenso differenzierte Kommunikationsmöglichkeit biete wie die abstrakte Erkenntnisprozesse vermitteln könnende verbale Sprache. [...] Zu einer Zeit, in der man des „dauernden Diskutierens“ und „ewigen Analysierens“, kurz: des Selberdenkens überdrüssig war — weswegen es üblich wurde, zwischen sich und das Leben diverse Interpreten zu schalten (Therapeut, Guru, Wahrsager), die einem beibrachten, wie man die Welt zu sehen hatte — verbarg sich dahinter eine massive Denkfaulheit, gepaart mit dem Autoritätshunger, den man den ungeliebten Vorfahren angekreidet hatte und der sich nur unter einer Bedingung stillen ließ: Gläubigkeit und Vertrauen in die Autorität. Tatsächlich handelte es sich um eine Vorstufe zu jener seelischen und geistigen Verkommenheit, die uns heute in einem Rassismus oben genannter Coleur begegnet.
Wenn wir diesen Denkfiguren, die da mir nichts dir nichts von den Pfunden auf die Innerlichkeit schließen, heute zustimmen, brauchen wir uns über die Konsequenzen nicht zu wundern.
Aber kann an der These mit der Undiszipliniertheit nicht „etwas dran“ sein?
War an der mit dem „jüdischen Großkapital“ etwa „nichts dran“? Es ist das Charakteristikum jeder Ideologie, daß sie immer auch ein Pendant in der Anschauung aufweist. Anders könnte sie überhaupt nicht wirksam werden. Aber zwischen der optischen Anschauung und der exakten Schlußfolgerung liegt ein komplizierterer Weg, als ihn sich modisch verbildete Hirnis träumen lassen: Manche Leute tanzen, wenn sie traurig sind und sitzen still in der Ecke, wenn sie sich wohlfühlen, bei anderen ist es umgekehrt. Zusammengezogene Brustwarzen können ebenso ein Zeichen von sexueller Erregung wie von physischem Kältegefühl sein, Lachen ebenso von Verzweiflung wie von Begeisterung. Man muß also schon sehr genau hinsehen, um die richtigen Schlüsse ziehen zu können — aber pardon, schon längst gibt es keine richtigen und falschen Schlüsse mehr, sondern nur noch Meinungen, die zu beurteilen niemandem ansteht.
Daß sich auch in einer Wohlstandsgesellschaft wohl nur wenige dieser Mühe unterziehen, sollte allerdings zu denken geben.
Es komme mir niemand mit der Arbeitslosigkeit der zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre als Verständnishudelei für die Ereignisse danach. Weil das hieße, Elend und Dummheit miteinander in Beziehung zu setzen! Dr.Margarete Böhm, Berlin
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