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»Soll der Senat doch hier zur Schule gehen!«

■ Neue Serie: Bilanz eines Schuljahres (Teil 1)/ An den Ostberliner Schulen geht das erste Schuljahr nach Westreglement zu Ende/ Ein Neuanfang mit einer Fülle von Problemen und sehr unterschiedlichen Noten am Ende/ Von Detlef Berentzen

Der Prozeß der deutschen Wiedervereinigung ist ein Anpassungsprozeß. Einer, in dem der Westen dem Osten die nötigen Vorgaben für System und Ordnung macht. Wer wollte das bestreiten und nicht auch gleichzeitig betonen, all dies sei »eherne Notwendigkeit«? Und wer hätte nach der »Wende« auch schon andere Konzepte als die existierenden für die neuen Länder der Republik gehabt? Also war es kein Wunder, daß im Sommer letzten Jahres folgende Meldung durch die Berliner Presse ging: »Mit dem Beginn des kommenden Schuljahres wird es in Ost-Berlin die Einheitsschule bis zur 10. Klasse, die ‘Polytechnische Oberschule‚, nicht mehr geben. Auch die bisherige ‘Erweiterte Oberschule‚ läuft zum selben Tag aus. In Gesamtberlin gilt dann das Westberliner Schulsystem von Grundschule, Sonderschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule.«

Möglichkeit, aus alten Fehlern zu lernen...

So simpel war das. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft empörte sich seinerzeit: Man könne doch nicht einfach die Westberliner Schulstruktur auf Ost-Berlin übertragen. Gerade die anstehende Zäsur im dortigen Schulsystem biete doch die Möglichkeit, »neue Wege« in der Bildungspolitik zu gehen und aus alten Fehlern zu lernen... Was für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) selbstverständlich die Installation eines flächendeckenden, »einheitsschulverdächtigen« Gesamtschulsystem geheißen hätte.

Also hatte es der Westberliner Schulsenator Jürgen Klemann von der CDU eilig: Auf keinen Fall wolle er die alte DDR-»Einheitsschule« über die Runden retten (und womöglich damit die GEW-Pläne befördern), betonte er. Da sei überhaupt nichts zwecks Reformüberlegungen hinauszuschieben, sondern da müsse angepackt werden. Also wurden die Ärmel aufgekrempelt — Sie kennen das — und aufgebaut. Der Osten der Stadt wurde mit dem westlichen Schulsystem überzogen und gesegnet.

Ein Füllhorn des Lobes

Ein Schuljahr ist seitdem vergangen, und im Osten Berlins sind die Ärmel der Mitwirkenden an den meisten Schulen nach wie vor aufgekrempelt. Dennoch sind die allerschlimmsten Zeiten, die der ersten Monate, vorbei. Schulgebäude sind zugewiesen, Lehrer und Schüler mathematisch exakt aufgeteilt, Unterricht findet statt. Wie auch immer. Staatssekretär Ulrich Arndt vom Schulsenat ist es jedenfalls zufrieden. Er hält es zunächst einmal für angebracht, das Füllhorn des Lobes über das erste Ostberliner Schuljahr unter Westbedingungen auszuschütten:

»Für einen Umbruch in diesem Umfang gibt es kaum eine Vergleichsmöglichkeit — ein total neues Schulsystem über Nacht einzuführen, das hat bislang noch niemand gewagt, also gab es auch nirgendwo Handlungsanleitungen. Jetzt, am Ende dieses Schuljahres bin ich von daher eigentlich erstaunt, wie gut das alles gelaufen ist, und muß den Hut vor allen Beteiligten ziehen, die diesen Prozeß so gut gemeistert haben. Trotz aller Probleme, die ich nicht wegdiskutieren möchte.

Wir haben im Ostteil 450 neue Schulen eingerichtet und mehr als 200 umgelagert. Zu all dem haben Lehrer, Eltern und auch Schüler beigetragen. Sie haben Tische und Stühle geschleppt, die Räume eingerichtet... Das war eine enorme Leistung.«

Die Trümmer beiseite räumen

Nun, es wurden zwar nicht gerade die obligatorischen »Trümmerfrauen« für diese »enorme« Aufbauleistung engagiert, aber es galt und gilt immer noch, Trümmer beiseite zu schaffen: Da ist zum Beispiel die Mehrzahl der Schulen Ost-Berlins in einem erbärmlichen Zustand. »Katastrophal« war eines der am meisten vergebenen Etikette im vergangenen Schuljahr. Barbara Tucher, Schulstadträtin aus Prenzlauer Berg, wollte sogar »Bedingungen wie im Jahre 1946« ausmachen — Ein wenig verwegen, dieser Vergleich. Schließlich hinterließen Nationalsozialismus und Weltkrieg andere Spuren in dieser Stadt als das SED-Regime. Fakt ist, daß Unterrichtsräume und Freiflächen en masse fehlen, Sanitärtrakte gesperrt werden mußten und manche Schulen im Winter erst gar nicht beheizbar waren, von ihrer äußeren Ästhetik ganz zu schweigen — was den Schulsenat mit »Sondersanierungsbauprogrammen« antreten ließ und ihn sogar, wie Staatssekretär Arndt berichtet, jetzt auch unorthodoxe Pläne in Angriff nehmen läßt:

»Für die Grundschule ist ein intensives Neubauprogramm erarbeitet worden, und auch für die Oberschule werden zur Zeit Neubauten geplant. Wir werden dort neue Wege gehen müssen: Zeiträume von fünf Jahren zwischen Planungs-und Baubeginn können wir uns nicht mehr leisten. Wir werden in zwei Jahren bauen müssen. Um das verwirklichen zu können, haben wir uns beispielsweise in Bayern Schulprojekte angeschaut, die von privaten Bauträgern gebaut worden sind und dann an die Kommunen vermietet wurden. Über dieses Verfahren denken wir zur Zeit nach, denn auf diesem Wege ist es möglich, binnen zwei Jahren Bauten hinzustellen, die in der Substanz und auch im Hinblick auf die Nutzung hervorragend sind.

Unkonventionelle Wege gehen

Wir setzen uns jetzt mit dem Finanzsenator zusammen, um zu klären, in welchen Bezirken wir mit einigen solcher Modellversuche beginnen können. Die Finanzen Berlins lassen ein so umfangreiches Programm, wie wir es eigentlich benötigen, als eigenfinanziertes nicht zu. Wir müssen die Gelder so disponieren, daß sie für den Bedarf ausreichen. Auch von daher also die Überlegung, unkonventionelle Wege zu gehen und Schulen anzumieten.«

Von Bayern lernen, heißt siegen lernen, muß sich der Senator angesichts dieses »Fixbauprogramms« gedacht haben. Doch noch fehlt dem Ganzen die letztliche Konkretion, und noch steht die wesentliche Frage aus, was sich aus Senatssicht eigentlich im Innern der Provisorien abspielt, die sich da »Schulen« nennen. Schließlich vermelden Zeitungen ein »Klima der Angst« an östlichen Schulen. Gerade bei den Lehrern sei dies unter anderem eine Angst vor Kündigungen. Derlei Diagnosen will der Herr Staatssekretär zumindest mit Blick auf Ost-Berlin nicht folgen:

»Ich bin eigentlich sehr froh, daß wir durch kontinuierliches und hartnäckiges Bohren erreicht haben, daß Abgeordnetenhaus und Senat einmütig erklärt haben, es dürfe keine Kündigungen von Bedarfs wegen geben. Wenn ich die Bedarfskündigungen in anderen neuen Bundesländern anschaue: Mecklenburg-Vorpommern 5.000, Sachsen 7.000... dann ist das schon ein Erfolg — Wir behalten alle Lehrer an Bord, gerade weil die Schülerzahlen in den nächsten Jahren wachsen werden.«

Nicht nur Ulrich Arndt, auch die GEW hatte also Erfolg mit ihrem Bemühen um »Rationalisierungsschutz« für Ostberliner Lehrer, von denen 1.500 als sogenannter »Überhang« registriert werden. In puncto Kündigungen wegen »mangelnder fachlicher Qualifikation« oder »fehlender persönlicher Eignung« gibt es indes keinen »Schutz«. Auch nach GEW-Meinung sollten in Ost-Berlin zumindest Lehrer mit Stasi-Vergangenheit nicht weiter unterrichten dürfen, so der Rapport der Gauck- Behörde eindeutig ist und nicht einfach nach dem »Rasenmäher-Prinzip« politisch gekündigt wird. Viele Überprüfungen sind indes noch anhängig, und so stimmt es an diesem Punkt wieder mit dem »Klima der Angst«, das allerdings nicht nur im Lehrkörper anzutreffen ist. Staatssekretär Arndt ahnt sehr wohl, daß auch die Situation der Schüler eine schwierige ist:

Der Zusammenbruch hinterläßt Spuren

»Man darf sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich im Psychologischen für die Jugendlichen in den elf neuen Bezirken erheblich was getan hat. Ihr bisheriges Wertesystem ist total zusammengebrochen, und so etwas hinterläßt Spuren, ja Unsicherheit.

Zwar wird es Zeit brauchen, bis all die Probleme verarbeitet worden sind, ich denke aber, daß Jugendliche eher die Chance haben, all das zu verarbeiten als mancher Erwachsene, der mitten im Berufsleben in die Krise gerät. Jugendliche haben hier ihre Jugend als Vorteil und können noch einiges korrigieren. Vielleicht werden wir die eigentlichen Auswirkungen auch erst in ein paar Jahren sehen.«

Der Herr Staatssekretär sollte nicht die Psychologie bemühen, wenn grundsätzliche Kenntnisse fehlen: Die betroffenen Schüler »verarbeiten« ganz und gar nichts, die »Chance« dafür ist gering — ihre Ohnmachtsgefühle, ihr »Überwältigtsein« wird einfach »weggesteckt« nach dem flapsigen Motto: »Da mußte eben durch.« Als »unerledigt« harrt die erfahrene Hilflosigkeit dann einer Möglichkeit des Ausdrucks oder bildet gar Symptome. Nur in dieser Hinsicht ist es wiederum richtig, daß wir bei den meisten Jugendlichen die Folgen der radikalen und unvermittelten Trennung vom alten Schulsystem der DDR, wie der »Wende« überhaupt, erst in ein paar Jahren erleben werden — wenn der Problemstau noch größer geworden ist.

Prinzip Hoffnung

Doch bis dahin vergeht noch einiges an Zeit, und der Schulsenat wird zunächst einmal sein Aufbauprogramm gegen die zunehmenden Sparzwänge der Haushaltspolitik durchsetzen müssen. Ob die Verwaltung das schafft, ist fraglich: »Überhaupt nichts« sei eigentlich für die Zukunft finanziell abgesichert, klagt bereits jetzt Staatssekretär Arndt und hofft nur, daß man in den Reihen der Kollegen Politiker begreift, daß »Schule eine Pflichtaufgabe des Staates« ist... Ja, ja, wenn das »Prinzip Hoffnung« nicht wäre... Ist die Zukunft also kaum als rosig zu bezeichnen, bleibt eigentlich nur der Blick in die Vergangenheit und mit ihm die an Ulrich Arndt gerichtete Frage nach der Bewertung des zurückliegenden Schuljahres — Herr Staatssekretär, zensieren Sie!: »Ich würde gerne zwei Zensuren vergeben. Eine ohne Beachtung der besonderen Umstände, da würde ich ‘befriedigend‚ sagen. Wenn ich aber die Umstände beachte und die Anstrengungen, die in den elf östlichen Bezirken unternommen worden sind, dann würde ich sagen ‘gut‚ und besser.«

Jetzt endlich alles »gut« und »besser« machen, das war es auch, was die »Pädagogischen Gruppen« der gewendeten DDR noch im Jahre 1990 als ihr Ziel deklarierten: »Wir Eltern, Kinder, Jugendliche und Pädagogen können und dürfen nicht warten. Wir tragen die Verantwortung für eine deformierte Gesellschaft... Schafft in Euren Bildungseinrichtungen demokratische Strukturen! Steht für Eure Verantwortung ein! Kinder, Jugendliche, Eltern und Pädagogen, begreift Euch als Partner! Es geht um eine Pädagogik der Glaubwürdigkeit! Nutzt die Chance für eine wahrhaftige pädagogische Revolution!«

Hehre Worte — inzwischen ist die Chance einer »pädagogischen Revolution«, so sie überhaupt real exisitierte, vertan. Man ließ sich vielmehr mit Beginn des Schuljahres 1991/92 im Osten Berlins auf die verfügten demokratischen Strukturen des Westberliner Schulsystems ein:

Die Eltern hatten also die vorgesehenen Sprecher und Vertretungen zu wählen, vom Klassenelternsprecher bis hin zum Landesschulbeirat, in dem pro Bezirk ein Elternvertreter sitzt — darunter Sybille Walter aus Treptow. Gerade in ihrer Funktion als Vorstandsmitglied des Landeselternbeirats hatte sie des öfteren mit dem Schulsenat, auch mit Ulrich Arndt, zu tun. Nur, wie anders ist ihr Eindruck! Ein kritischer Rückblick auf das vergangene Schuljahr erlaubt Frau Walter nicht, ausschließlich das Hohelied des Lobes auf die Zusammenarbeit mit Senatens zu singen.

Senat tat, was er wollte

»Was mir die meisten Probleme gemacht hat, war die Tatsache, daß sich die Senatsschulverwaltung die Voten des Landesschulbeirats lediglich anhörte, in den meisten Fällen aber das tat, was sie allein für richtig hielt — Mit der sogenannten Mitbestimmung ist es also ein bißchen schwierig.

Wir haben allerdings partiell auch etwas erreicht: Bei der Elternaktion »Abi 92«, wo es um das Zeugnisformular und das Abitur nach einem einheitlichen Berliner Schulrecht ging. Wir haben auch Erfolg gehabt, als es um die Sprachkundigenprüfung für die jetzigen zwölften Klassen ging.

Völlig unklar indes ist die Situation der Schüler der zehnten Klassen auf den Russisch-Schulen. Die haben seit der dritten Klasse Russisch und sollten jetzt eigentlich Abitur machen und zur Sprachkundigenprüfung geführt werden. Statt dessen werden die zur Zeit ohne jede Lehrplanveränderung auf Sparflamme gehalten, weil sie das Abitur erst nach der 13. Klasse bekommen sollen. So ein Zustand entsetzt die betroffenen Eltern und ist ja wohl auch pädagogisch ein wenig anfechtbar.«

Frau Walter kritisiert zwar die Konfusion in der Schulverwaltung, konzidiert aber gleichzeitig, daß die Aufgabe der Umgestaltung und Anpassung des Schulsystems auch schwierig war und bleibt. Noch Jahre werden ihrer Meinung nach ins Berliner Land gehen, bevor adäquate Lösungen für alle Schulprobleme im Osten Berlins gefunden sind. Daß bei diesem Prozeß der Senat ruhig mehr auf den Landeselternbeirat hören dürfte, ist eine einleuchtende Forderung. Und sie ist darüber hinaus demokratisch legitimiert.

Die nächste Folge erscheint am kommenden Dienstag.

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