WO LIEGT SIMMS?

■ Annäherungsversuche, ein unscheinbares karibisches Kaff auf Long Island, Bahamas, ausfindig zu machen

Annäherungsversuche, ein unscheinbares karibisches Kaff auf Long Island, Bahamas, ausfindig zu machen.

VONTHOMASKERNERT

Das erste Mal kam ich an einem kristallklaren Vormittag nach Simms. Gleichwohl bedurfte es eines gezielten Hinweises meines Begleiters, eines ehemaligen Elektroingenieurs aus Leverkusen, der sich vor Jahren auf Long Island, Bahamas, niedergelassen hatte. „Das also ist Simms“, sagte er in einem Tonfall, als wolle er sich entschuldigen. Ich kniff die Augen zusammen und suchte dieses Simms am Straßenrand, doch ich fand es nicht. Alles, was ich sah, war grünes Buschwerk, Oleander- und Hibiskussträucher. Ohne bestimmten Grund hielt ich es dennoch für klüger, vorerst nichts zu sagen.

Nach ungefähr fünfzig Metern bogen wir von der schmalen Hauptstraße rechts ab in eine noch schmalere Seitenstraße und hielten an. „Das also ist Simms“, wiederholte er. Diesmal klang sein Tonfall allerdings weniger nach Entschuldigung als nach Belustigung. Worüber macht sich Kurt lustig, überlegte ich; über das nicht vorhandene Simms oder über mich, der ich das sehr wohl vorhandene Simms nicht zu sehen imstande war?

Ich kam mir ein bißchen albern vor, so mitten in einem unsichtbaren Ort zu stehen. Zum Glück tauchten rechtzeitig zwei schneeweiße Steinfassaden hinter den Sukkulentensträuchern auf. „Das ist die Kirche, und dort ist das Gefängnis“, erklärte Kurt mit einer Handbewegung. Kirchen und Gefängnisse — dachte ich, sie lassen wenigstens auf Menschen hoffen. Wo aber waren sie, die Einwohner von Simms, die Braven und die Bösen?

Noch bevor ich diese Frage zu Ende denken konnte, war Simms selbst zu Ende. Zumindest ging der Holzsteg, auf dem wir uns mittlerweile befanden, nicht mehr weiter. Zudem steckte Kurt die Hände in die Hosentaschen, wie man das nur tut, wenn irgend etwas definitiv zu Ende gegangen ist. Ich blickte aufs Meer hinaus und wartete stumm auf das, was nun folgen würde. Alles wäre mir recht gewesen, aber nichts geschah. Nur Schweigen: Kurt schwieg. Das phosphoreszierende Türkis des Wassers schwieg. Die aufgequollenenen Wolkenberge, die wie große, müde Tiere über der Insel hingen, schwiegen. Und, nicht zu vergessen, das unsichtbare Simms schwieg natürlich auch.

Auf dem Rückweg erfuhr ich von Kurt nur noch, daß er jetzt schon 25 Jahre hier lebe. Noch immer wäre sein größtes Vergnügen, bei sternklarem Himmel nachts um ein Uhr die zweite Symphonie von Bruckner zu hören. Mit Astrid, seiner Frau, hätte er am Deal's Beach die deutsche Wiedervereinigung gefeiert. Aber kein Wort mehr über Simms.

Ich hörte Kurt zu und dachte an Simms. Oder besser: In mir dachte es an Simms. Woher mein plötzliches Interesse für ein so unscheinbares Kaff kam, war mir schleierhaft. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meine Verdauung.

Mein zweiter Versuch, Simms zu entdecken, endete schon nach kürzester Zeit auf einem Friedhof. Dieser Friedhof lag auf der linken Seite der Straße, die von Cape Santa Maria im Norden über 70 Meilen hinab nach Roses im Süden führte. Im Überblick betrachtet, besteht das spindeldürre Long Island vor allem aus dieser einen langen Straße sowie einigen rosazarten und zitronengelben Häusern, subtropischem Buschwerk, ein paar Palmen, ein paar Koniferen, einigen von Mangroven bewachsenen Cays und sehr viel Strand. Jener Friedhof war von einer quadratischen, halbhohen Mauer eingefaßt, deren Brüstung mit Conchs-Muscheln verziert war.

In der Mitte des Friedhofs hob ein junger Farbiger ein Grab aus. Er winkte mich zu sich herüber und stellte sich vor. Sein Name war Lawrence. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte, daß er drei Berufe hätte: Erstens sei er Baßspieler in der Hotelband von Stella Maris. Als solcher habe er mich am Vorabend gesehen. Zweitens übe er das Amt des Totengräbers auf diesem Friedhof aus. Und drittens besäße er ein kleines Lokal auf der anderen Straßenseite.

Neben diesen drei Berufen habe er auch noch eine Berufung: er komponiere — und zwar die besten Songs von ganz Long Island. Ob er aus Simms käme, fragte ich ihn. Die meisten, die hier lägen, stammten aus Simms, antwortete er. Er selbst jedoch komme aus Millerton's, einer Art Vorort von Simms. Ich zog die Stirn in Falten: Daß das Nichts auch noch eine Peripherie besaß, gab mir zu denken.

Gegen Mittag dann erschien wie aus dem besagtem Nichts Lawrence' Schwester mit einer Plastiktüte voller Bierdosen. Ihre Haut war schwarz wie Afrika, ihr Lachen breit wie der Atlantische Ozean. Sie hieß Arabella und erzählte, daß sie hier auf Besuch sei, um ihre ehemaligen Schulfreundinnen aus Simms wiederzusehen. Seit zwei Jahren wohne sie nun schon im 250 Kilometer entfernten Nassau, wo sie als Gärtnerin für die Stadt arbeite.

Während die Sonne in den Zenit stieg, saßen wir, Bier trinkend, in der kühlen Grube des Todes. Lawrence sang und trommelte wie wild auf seine Schenkel. Arabella begleitete ihn im Refrain. Ich hörte zu und freute mich, daß Simms nun doch langsam Gestalt oder, besser gesagt, Ton anzunehmen begann. Ich glaube, es war Kurt, der mich am späten Nachmittag irgendwo am Straßenrand aufgabelte...

Mein dritter und letzter Annäherungsversuch schließlich fand in einer sternklaren Nacht statt. Lawrence hatte mir den Tip gegeben. Kein Girl from Ipanema wie im Hotel, sondern schwärzer noch als seine Schwester sei die Musik, die er mit seinen Jungs am Freitag abend in Sam's Bayside Inn spielen werde. Das Sam's sei ganz einfach zu finden: immer auf der Hauptstraße entlang bis zum Ortsschild von Simms; dann läge es irgendwo auf der rechten Seite.

Also lieh ich mir an jenem Freitag abend Kurts brasilianischen VW- Käfer aus und machte mich auf den Weg. Es war Vollmond. Niemand war unterwegs. Der Deal's Beach schimmerte wie ein sichelförmiges Schneefeld. Und irgendwann befand ich mich dann tatsächlich unter einem riesigen, grell ins Leere strahlenden Neonschild: Sam's Bayside Inn. Das Schild gehörte zu einem garagenartigen fensterlosen Bau, umgeben von alten Chevies, VWs und Toyota-Jeeps. Ich drückte die Türe auf und zuckte zusammen.

Qualvolle Enge herrschte in dem schlauchförmigen Gebilde. Noch ehe ich etwas erkennen konnte, riß mich eine Strömung von Leibern mit und spülte mich zu einer der niedrigen Sitzbänke am Rande des Tanzfeldes. Ich blickte um mich herum wie ein Ertrinkender: Vor mir türmten sich zwei mal vier Boxen von den Ausmaßen einer altdeutschen Wohnzimmerschrankwand auf. Sonst nichts wie nackter Beton, eine niedrige Asbestdecke und zwei hilflose Ventilatoren. Die Musik drückte auf meine Ohren und Schläfen. Lawrence' Baß peitschte durch den Raum wie die Stromschläge durch den Körper eines Delinquenten. Einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, zerquetscht zu werden.

Es dauerte eine Weile, bis sich meine Ohren akklimatisiert hatten. Wie ein stark Angetrunkener saß ich bewegungs- und wehrlos da und fühlte, wie die glühende Musik langsam in meinen Blutkreislauf und mein Gehirn eindrang. Vor meinen Augen flimmerte ein dichtes Gewebe lustvoll tanzender Leiber. Das ist die Rache, dachte ich. Wie konntest du dich nur jemals auf dieses Simms einlassen?

Irgendwann löste sich dann Arabellas Gesicht aus diesem Gewebe und begrüßte mich mit ihrem breiten Atlantik-Lächeln. Als sei das noch nicht genug, reichte sie mir ein Bier und setzte sich wie eine gute Bekannte neben mich. Simms, was bist du nur für ein seltsames Etwas? Erst läßt du dich nicht blicken und dann, innerhalb von Sekunden, überrollst du mich wie eine Dampfwalze. Worauf willst du hinaus?

Arabella saß da und bewegte die Schultern und das rechte Bein andeutungsweise im Rhythmus der Musik. Ihre schmalen Hände lagen bewegungslos in ihrem Schoß. In ihrem dottergelben Trägerkleid sah sie aus wie einer dieser teuren, exotischen Engel aus den Hochglanz-Modemagazinen. Kein Wunder, daß sie zum Tanzen aufgefordert wurde. Doch sie lehnte ab, ein ums andere Mal. Natürlich fühlte ich mich im ersten Moment geschmeichelt, auch wenn es nicht den geringsten Anlaß gab, ihre mangelnde Tanzbereitschaft in irgendeiner Weise mit meiner Person in Beziehung zu bringen.

Als mich jedoch dann für Sekundenbruchteile das kalte Auge des siebten oder achten erfolglosen Bewerbers traf, wurde mir klar, daß zumindest die anderen sehr wohl in mir den Grund ihres Mißerfolges sahen. Und noch etwas kam mir wie ein Hammerschlag zu Bewußtsein: daß ich in dieser hundert Quadratmeter kleinen, kurz vor einer Explosion stehenden Betonschachtel das einzige weiße Wesen war und daß im Zweifelsfall die Lautstärke der Musik alle Erklärungen und Beteuerungen sinnlos machen würde. Ganz abgesehen von der Enge und der Dunkelheit...

Ich blickte Arabella zu. Ich versuchte, mich an ihrem Lächeln festzuklammern, doch zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich nichts anderes mehr als die verräterische weiße Farbe meiner Haut. Gegen dieses Gefühl sind alle Ausflüchte machtlos. Da hilft nur noch die eine große Flucht, und zwar so schnell wie möglich. Innerhalb von Sekunden war ich wieder im Freien, hastete zu meinem VW, knallte die Wagentür zu und fühlte mich augenblicklich wie der Mercedes-Mann in der Werbung.

Ich wollte gerade wenden, als mir eine Gestalt winkend entgegenlief. Bei laufendem Motor öffnete ich das Fenster einen Spalt weit. Es war einer meiner vermeintlichen Neider. Mit einem freimütigen Lächeln auf den Lippen überreichte er mir mein Portemonnaie, das ich ganz offensichtlich bei meinem etwas sonderbaren Abgang verloren hatte.