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„Die arbeitsreichste Zeit in meinem Leben“

■ Gespräch mit dem Bremer Oberstaatsanwalt von Bock, der sechs Monate die Ost-Justiz auf Trab bringen half

Ein halbes Jahr, vom 1.10.91 bis 31.3.92, war der Bremer Oberstaatsanwalt Hans-Georg von Bock und Polach in Rostock. Insgesamt 16 Richter, sechs Staatsanwälte, sieben Rechtspfleger, einen Anstaltsleiter und acht Justizbeamte hat Bremen seit dem 1. Oktober 1990 in die neuen Bundesländer „ausgeliehen“, die meisten von ihnen nach Rostock. Über ihr normales Gehalt hinaus bekamen sie dafür 3.800 Mark monatlich als Aufwandsentschädigung.

Die Justiz-Hilfe wird je zur Hälfte vom Bund und dem Land Bremen bezahlt. Viele verlängerten ihren Aufenthalt in der Ex-DDR sogar mehrmals, so daß zur Zeit noch 20 Bremer Juristen in den neuen Ländern arbeiten. Drei RichterInnen sind inzwischen sogar ganz in den Osten gezogen.

taz: Hat sich eigentlich jemand gefreut, als Sie in Rostock ankamen, um der Staatsanwaltschaft unter die Arme zu greifen?

Hans-Georg von Bock und Polach: Ja, weil die Kollegen dort soviel Arbeit haben, daß sie dringend darauf angewiesen sind, weiter von Leuten unterstützt zu werden, die man als Routinier bezeichnen kann.

Auch die Staatsanwälte der ehemaligen DDR haben Sie nicht als Konkurrenten gesehen?

Und wenn es so gewesen sein sollte, so hat man es jedenfalls nicht gezeigt. Mir gegenüber sind sie alle sehr freundlich gewesen, aber daß da bei dem einen oder anderen Vorbehalte bestanden haben, davon muß man wohl ausgehen.

Waren die Ex-DDR-Kollegen denn für Sie normale Juristen oder eigentlich selber schon potentielle Fälle für Ermittlungsverfahren?

Nein, ich bin zunächst einmal davon ausgegangen, daß die sich nach damaligen Maßstäben korrekt verhalten haben. Daß das andere Maßstäbe waren, war klar. Ich habe nie den Versuch gemacht, in einen Kollegen einzudringen und da nachzubohren. Es gibt nur gelegentlich mal schlaglichtartig einen Einblick in das Denken, wenn z.B. gesagt wird: „Aber alles war ja nicht schlecht.“ Auch für die ist es sehr schwer, diese Vergangenheit einfach abzuschütteln und jetzt einen wesentlichen Teil des eigenen Lebens als fehlgeleitet oder falsch anzusehen. Aber das sind Dinge, die jeder für sich selbst klären muß.

War denn alles schlecht?

Eine Sache ist mir als positiv in Erinnerung: die Art und Weise, wie mit den Geschädigten umgegangen wurde. Wir haben bei uns das Adhäsionsverfahren, d.h. im Strafverfahren kann zugleich über Schadensersatz an den Geschädigten entschieden werden. Aber dieses Verfahren führt ein Kümmerdasein. In der DDR dagegen wurden regelmäßig auch die zivilrechtlichen Fragen im Strafverfahren abgehandelt. So wurde versucht, den Rechtsfrieden insgesamt wieder herzustellen.

Was haben Sie in Rostock gemacht?

Man bearbeitet selber Akten und wird in der Ausbildung eingesetzt. Das heißt, daß man die aus dem früheren SED-Justizdienst übernommenen Kollegen ausbildet. Die legen alles zur Gegenzeichnung vor.

Jeder Ost-Staatsanwalt, der eine Anklageschrift vorbereitet hat, muß sie erstmal einem West-Kollegen vorlegen?

Ja, der muß vorübergehend die Sachen vorlegen, damit genau festgestellt wird, ob unsere Techniken beherrscht werden und die Maßstäbe mit unsrigen vergleichbar sind. Wenn sie sich bewähren, werden sie aus dieser Gegenzeichnung entlassen. Das kann man unter Umständen sehr schnell machen.

Aber die Entscheidungen der Westkollegen werden nicht gegengezeichnet?

Nun, es ist die Justiz der Bundesrepublik, die dort drüben eingeführt werden soll, und dann ist es logisch, daß die Sachen demjeni

gen vorgelegt werden, der die Erfahrung damit hat.

Wie geht das in der Praxis?

Mir wurde jeden Morgen ein großer Stapel Akten zur Gegenzeichnung vorgelegt von einer Kollegin, die vorher Anwältin gewesen war. Dann habe ich das durchgearbeitet. Ob ich das genauso gemacht hätte oder nicht — darauf kam es nicht an. Wenn die Entscheidung so vertretbar war, habe ich es mit meinem Häkchen versehen. Und alle anderen Sachen habe ich mit der Kollegin im einzelnen erörtert.

Haben Sie sich dabei auch einmal überzeugen lassen?

Sicherlich gibt es Grenzfälle, wo man dann doch sagt: Ja, das kann man so machen. Das war kein Problem.

Und wenn sie einmal nicht nur mit Juristen, sondern mit der normalen Bevölkerung zu tun hatten?

Das Verhältnis von Bürgern zur Justiz ist in den neuen Bundesländern ein wenig anders als bei uns. Die Leute gehen da drüben sogar noch zur Polizei und machen Aussagen, was bei uns nicht mehr so häufig der Fall ist. Die Beschuldigten machen nicht so häufig von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch. Die Leute dort wirken auch unsicherer im Umgang mit der Justiz.

Das Vorurteil sagt, daß in der Ex- DDR auch noch weniger Straftaten passieren.

Ich kenne die aktuelle Kriminalitätsstatistik nicht, aber wenn ich an die Berge von Akten denke, die uns täglich vorgelegt wurden, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß da drüben weniger los war, als hier.

Und das führt auch zu langen Wartezeiten?

In Rostock haben wir schon einen sehr großen Berg von Akten vor uns hergeschoben. Neben der Kriminalitätsentwicklung ist sicher auch die schwierige Personallage ein Grund dafür. Die übernommenen und die neu eingestellten Kollegen, von denen viele Berufsanfänger sind, erreichen in der Einarbeitungszeit nicht die Erledigungsquoten eines alten Hasen. Einige werfen schließlich das Handtuch, obwohl viel — letztlich vergebliche Arbeit — in ihre Ausbildung gesteckt wurde.

Auch ist nachvollziehbar, daß Kollegen aus SED-Zeiten, die bereits nach der ersten Überprüfung einen negativen Vorbescheid erhalten haben und nun mit ihrer Entlassung rechnen müssen, nicht mehr zu Höchstleistungen zu motivieren sind. Da hat es Fälle gegeben, wo nach dem Ausscheiden aus Schreibtischen und Schränken hunderte von unerledigten Akten zum Vorschein kamen. Aber das ist jetzt wohl Vergangenheit.

Das Vorurteil sagt auch, daß in der Ex-DDR eher weniger gearbeitet wird.

Die waren da drüben gewohnt, morgens um sieben Uhr anzutreten, und um 16 Uhr hörte man dann auch das große Getrappel auf den Fluren, und alle hauten ab. Ich selbst hab' dann noch gesessen und oft bis Mitternacht und darüber hinaus weitergearbeitet.

Das hat sich aber geändert: Die jungen Kollegen sind dort wirklich mit großem Engagement dabei. Ob sie noch um sieben anfangen weiß ich nicht, aber man trifft sie auch noch zu späterer Stunde an.

Ihre Aufgabe in Rostock war im wesentlichen die Rehabilitierung von DDR-Justizopfern?

Ja, nach dem Rehabilitierungsgesetz ist derjenige zu rehabilitieren, der in Wahrnehmung seiner politischen Grundrechte gehandelt hat und deshalb bestraft wurde — wenn er gewaltfrei gehandelt hatte — oder wer irgendwie im Zusammenhang mit Republikflucht angeklagt und verurteilt wurde.

Wir hatten die Aufgabe, die Anträge der Bürger zu prüfen.

Und daran sind auch ehemalige DDR-Staatsanwälte beteiligt?

Als ich dort hinkam, bearbeiteten fünf frühere Ost-Staatsanwälte diese Fälle. Das ist manchmal auf leichte Probleme gestoßen, weil Bürger kamen, sich nach dem Stand ihrer Sache erkundigten und sagten: „Was, diese rote Socke sitzt immer noch da?“ Das konnten sie gar nicht verstehen.

„Da kamen Bürger, um sich nach ihrer Sache zu erkundigen, und sagten: Was, diese rote Socke sitzt immer noch da?“

Sie waren aber immer ganz beruhigt, wenn ich Ihnen nun als Westler erklärt habe, daß jede Entscheidung dieser Ost-Kollegen von mir überprüft wird, und daß ich bisher keinen Anlaß hatte, irgendeine dieser Entscheidungen aufzuheben. Es war für mich schon erstaunlich, wie schnell die Kollegen sich darauf eingestellt haben und entsprechend den Vorgaben und dem Sinn des Rehabilitierungsgesetzes die Verfahren aufgearbeitet haben.

Im Gegenteil: Manchmal hatte ich den Eindruck, sie seien sogar bereit, das Gesetz sehr weit auszulegen. So war z.B. die Rehabilitierung eines Mannes befürwortet worden, der nur betrunken rumkrakehlt hatte. Das konnte ich nun nicht als Wahrnehmung politischer Grundrechte ansehen.

Haben Sie sich dabei nur auf Akten gestützt oder gab es auch Zeugenvernehmungen?

Nein, das ist eine rein aktenmäßige Bearbeitung.

Es könnte ja auch sein, daß die Akten nicht stimmen.

Wir haben solche Grenzfälle gehabt, wo in den Urteilsgründen eine scheinbar unpolitische Sache doch noch politisch behandelt wurde. Wenn im Urteil aber nicht diese sozialistische Prosa auftauchte, dann habe ich keinen Anlaß gehabt, daran zu zweifeln. Wenn etwas nach unserem Gesetz strafbar war, kann das Urteil auch drüben nicht aufgehoben werden.

Wobei auch dann noch das Strafmaß geprüft wurde. Regelmäßig sind dort ja ganz drakonische Strafen verhängt worden — neun Monate für eine Pöbelei, und jeder sieht, der war betrunken: Dann kann man wohl sagen, die Verurteilung wegen der Tat ist im Prinzip zurecht erfolgt, aber die Strafe ist völlig überhöht.

Gab es auch Fälle von Rehabilitie

Als Abteilungsleiter für Rehabilitierungen in Rostock: Staatsanwalt von BockFoto: Jörg Oberheide

rungsverfahren, in denen die DDR-Justiz gegen ihre eigenen Gesetze verstoßen hatte?

Ja, das gab es. Insbesondere zu Beginn der 50er Jahre hat man nach Artikel 6 der Verfassung verurteilt. Eine ganz absonderliche Geschichte: Es gab damals in der DDR keine Strafbestimmung, nach der Spionage strafbar war. Da hatte man ein früheres NS-Gesetz aufgehoben ohne für Ersatz zu sorgen. Und als man dann die Lücke bemerkte, hat man unter klarem Verstoß gegen das Gebot, daß ohne ein Strafgesetz nicht bestraft werden darf, die Angeklagten verurteilt. Bei solchen Verfahren ist regelmäßig gegen die beteiligten Richter und Staatsanwälte ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.

Aber nur in diesen Fällen?

Ja, denn man muß ihnen ja nachweisen können, daß sie vorsetzlich, absichtlich gegen ein bestehendes Gesetz verstoßen haben. Wir haben alle diese Sachen erstmal auf Frist gelegt, um die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Verjährung abzuwarten.

Es ist schon erschreckend, mit welcher Unerbittlichkeit da drüben verfolgt worden ist, indem man jeden kleinen Verdacht, der sich aus dem einen Verfahren ergeben hat, nun gleich genommen hat, um den nächsten von der Straße weg zu verhaften.

Und dann macht man sich seine Gedanken, wie es wohl kommt, daß jemand in drei Vernehmungen konsequent die Täterschaft bestritten hat, und dann beginnt die nächste Vernehmung, ohne daß irgendwelche neuen Beweis

mittel vorgelegen hätten, plötzlich mit einem Geständnis.

Folter?

Mißhandlungen. Das wird ja auch häufig von den Antragstellern berichtet.

Wird es noch einmal zur Verurteilung derer kommen, die dafür damals verantwortlich waren?

Das wird mit Sicherheit sehr schwer. Man wird dort an die Grenzen stoßen, die wir auch bei uns kennen: Einem Richter nachzuweisen, daß er wider besseres Wissen jemanden verurteilt hat.

Da kommt jetzt also jemand und sagt, ich bin 1963 zu unrecht verurteilt worden, bitte rehabilitiert mich. Wie geht das konkret?

Das ist noch viel komplizierter. Der kommt und sagt: „Ich bin 1963 verurteilt worden, ich weiß aber weder das Aktenzeichen noch habe ich das Urteil.“ Es ist symptomatisch für die Verhältnisse bis 1989, daß den Angeklagten in politischen Prozessen weder eine Anklage übergeben wurde, noch daß sie das Aktenzeichen oder Urteil bekommen haben.

Da erweist es sich als gut, daß es sich bei der DDR um einen extremen Buchhalter-Staat gehandelt hat. Was bei uns völlig unvorstellbar ist, nachdem viele Akten nach Ablauf der Aufbewahrungsfristen vernichtet werden; dort stoßen wir auf einmal auf Akten, bei denen es selbst in den eigenen Registern heißt: „vernichtet“. Aber die sind beileibe nicht vernichtet worden, sondern in die Bestände irgendwelcher anderer Archiv, z.B. der Stasi, gelangt.

Bei uns wäre eine Rehabilitierung von Verurteilten z.B. aus den 50er Jahren mangels Akten gar nicht mehr möglich?

Wir gehen davon aus, daß wir dazu keinen Anlaß haben werden. Wobei man sagen muß: Man wird durch die Beschäftigung mit diesen DDR-Urteilen gezwungen, etwas selbstkritischer mit der eigenen Justizgeschichte umzugehen. Wer Urteile aus DDR-Zeiten in die Hand bekommt, erschrickt manchmal über das Strafmaß. Aber zu der Zeit haben auch bei uns ganz andere Maßstäbe gegolten: Der Rückfall-Diebstahl war ein Verbrechen, für das es Zuchthaus gab.

Wie ist es mit den Antragstellern in Rehabilitierungsverfahren: Machen sie sich große Hoffnungen?

Man muß sich vor Augen halten, daß jemand wegen des Versuchs der Republikflucht als vielleicht 22jähriger Student zwei Jahre bekommen hat. Damit war regelmäßig ein Lebensentwurf zunichte gemacht. Da gab es viele, die nie wieder Tritt gefaßt haben. Das kann man sogar in den Akten sehen: Sie waren vorher nie auffällig, und nun kommt da ein menschliches Wrack zu Ihnen, Alkoholiker oder ähnliches. Der erhofft sich nun natürlich eine gewisse Besserstellung. Manche

haben auch noch die Hoffnung darauf, es könnte neben der finanziellen und der rein strafrechtlichen auch noch eine berufliche Rehabilitierung geben. Doch das ist nicht zu leisten. Wir müßten riesige Behörden schaffen, um in der Lage zu sein, die Prognose zu treffen: Ohne dieses Strafurteil wäre der Lebensweg so und so gelaufen... Diese Hoffnung existiert natürlich bei vielen. Aber das ist weder personell noch finanziell zu schaffen.

Wie steht es mit dem Juristen- Nachwuchs?

Ich will die Leute wirklich nicht schlecht machen. Da gibt es welche mit großem Elan, die wirklich gut sind. Aber bei der Frage, ob man nach Rostock geht oder nach Hamburg, da wird man schon feststellen können, daß sehr viele sich erstmal in Hamburg beworben haben, und anschließend nehmen sie das Angebot an, das eigentlich zweite Wahl war. Oder hier in Bremen wurden sie abgelehnt, und im Osten stellt man dann fest, daß sie angenommen worden sind. Schon allein wegen der Wohnverhältnisse ist es da drüben nicht attraktiv.

Ihnen hat es nach dem halben Jahr auch gereicht?

Es war eine Belastung für meine Familie. Ich habe drei schulpflichtige Kinder, meine Frau ist Lehrerin. Daß die dann doppelt belastet ist, ist völlig klar.

Ich selbst hatte den interessanteren Part, denn ich bin rausgekommen in die Welt und habe in einer wirklich historisch einmaligen und wichtigen Situation etwas vor Ort kennenlernen können. Das kann man aber der Familie nicht lange zumuten.

Es war die arbeitsreichste Zeit in meinem Leben. Ich habe da mehr gearbeitet als während der Examensvorbereitungen. Hut ab vor denjenigen, die dort die Behörde leiten, die jetzt in den Justizdienst Mecklenburgs übergewechselt sind. Ich kann nur hoffen, daß die die gesundheitliche Stabilität haben, um das durchzustehen. Denn das zehrt da drüben ganz anders als bei uns. Wir haben hier auch immer mal wieder neue Probleme, die gelöst werden müssen. Aber da drüben kommen sie alle auf einmal.

Fragen: Dirk Asendorpf

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