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Meditation statt Doping

■ Ein Guru bereitet Vegetarier Carl Lewis bisher ohne Erfolg auf die Olympischen Spiele in Barcelona vor

„Stell' dir vor, ein wildgewordener Tiger ist hinter dir her und will dich fressen“, flüstert der Inder Sri Chinmoy (60) dem startbereiten Carl Lewis ins Ohr. Der Gejagte prescht über die Aschenbahn. Imaginations- und Meditationsübungen gehören für den US-Ausnahmeathleten zum täglichen Training. „Wenn die Visualisationsübung mit dem Raubtier nicht hilft, sage ich ,Carl, dein Haus brennt. Renne zur nächsten Telefonzelle und ruf die Feuerwehr.‘ Stellt er sich vor, daß sein wertvollster Besitz verbrennt, wird er ganz bestimmt so schnell wie möglich laufen“, erklärt der in New York lebende Philosoph.

Sri Chinmoy sorgte 1977 erstmals für Furore. Unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen meditierte er im Ring mit Boxer Muhammed Ali vor dessen entscheidendem WM-Schwergewichtskampf gegen Earnie Shavers. Ali gewann den Fight. Mit 56 Jahren verbuchte der Sportphilosoph und Ultra-Marathonläufer einen sensationellen Rekord: Vor Zeugen und laufenden Kameras hob Chinmoy die größte und schwerste Hantel aller Zeiten: Er stemmte 3,2 Tonnen Eisen. Einarmig. Um, wie er selbst sagt, „zu zeigen, daß man körperliche Grenzen sprengen kann.“ Noch heute läuft der Sechzigjährige auf 100 Metern 14,3 Sekunden. Doch mit dieser Zeit gibt sich Chinmoy nicht zufrieden. Sein Ziel: mit Meditation und Carl Lewis als Trainingspartner will er seinen persönlichen Sprintrekord brechen. Der lag 1947 bei 11,7, barfuß gelaufen auf einer indischen Aschebahn.

Lewis — seit einigen Jahren strenger Vegetarier — ist davon überzeugt, daß Meditation ihm hilft, noch bessere Leistungen zu bringen. Vor jedem Start betet der Athlet und macht Atemübungen. „Das Wichtigste ist, daß ich mich nach innen richten kann. Ich konzentriere meine innere Kraft auf die Laufbahn, denn dort wird sich alles entscheiden. Entspannung und Konzentration sind für mich der Schlüssel zum Erfolg.“

Den will er auch im Weitsprung verzeichnen. Für diese Disziplin hat sein Guru eine besondere Visualisationsübung parat: „Höre wie die Massen deinen Namen rufen. Du springst nicht nur für Amerika, sondern für die ganze Welt. Du bist auf der Erde geboren, deshalb repräsentierst du diesen Planeten. Im Sprung forderst du alle kosmischen Wesen und Engel heraus.“ Vor jedem Wettkampf erklärt Chinmoy, daß er nicht an seine Konkurrenten, sondern nur an seine eigene Kraft denken soll. Durch Meditation, so prophezeite er, wird Carl Lewis bei den olympischen Spielen in Barcelona seine physischen Grenzenüberwinden und sensationelle Leistungen zeigen.

Doch schon auf der ersten Etappe auf dem Weg dahin, verließen Carl Lewis die kosmischen Energien. Der 100m-Weltrekordler und sechsmalige Olympiasieger wurde bei der US-Olympia- Qualifikation in New Orleans ausgerechnet über 100m sensationell nur Sechster. Mit schwachen 10,28 Sekunden war er fast zwei Zehntelsekunden langsamer als der Sieger Dennis Mitchell (10,09) und verpaßte damit die Qualifikation über diese Strecke. Es muß Lewis weh getan haben, die Schmährufe der Zuschauer zu hören, die sich über seinen Ausrutscher freuten, als er von sechs Sicherheitsbeamten zur Pressekonferenz geführt wurde. „Mit so einer Zeit habe ich nichts im Olympia-Team zu suchen“, sagte der 30jährige nüchtern, „es war nicht mein Tag. Mir hat ganz einfach die Spritzigkeit gefehlt, aber ich weiß nicht warum. Ich konnte nichts zulegen.“ Ein kurzer Klaps für Leroy Burrell, der sich als Dritter in 10,10 hinter Mark Witherspoon (10,09) die Olympia- Teilnahme sicherte, und Lewis verschwand.

Mitchell raste im Finale mit seinem üblichen Superstart aus den Blöcken, während sich der große Favorit wie ein vollgefressener Bär nahezu in Zeitlupentempo aufrichtete. Nach den bisherigen Saisonleistungen aller Beteiligten war Lewis eigentlich gar nicht der Favorit, aber er hatte sich selbst dazu gemacht. Von der Form seines Lebens war die Rede, von einem vermeintlichen Weltrekord. Lewis, bekannt dafür, daß er auf den letzten 30 Metern seine Sprints gewinnt, ließ am Samstag kurz vor dem Ziel deutlich nach.

„Ich bin geschockt, daß Carl es nicht geschafft hat“, sagte der viertplazierte Mike Marsh (10,14), „aber er ist ein Champion, und er wird zurückschlagen.“ Immer wenn Lewis abgeschrieben worden ist, überzeugte er mit überraschenden Weltklasseleistungen. Die zwei Goldmedaillen bei der vergangenen Weltmeisterschaft in Tokio sind das beste Beispiel, das 100m-Finale in New Orleans war eine Ausnahme. Noch kann sich Lewis in zwei Disziplinen für Olympia qualifizieren. Über 200m wird es dabei wohl zum ersten Duell überhaupt gegen Weltmeister Michael Johnson kommen, und im Weitsprung zur lang ersehnten Revanche gegen den leicht verletzten Weltrekordler und Weltmeister Mike Powell. „Ich werde nicht aufhören zu atmen. Das Leben geht weiter“, sagte Lewis, „ich freue mich für die anderen. Sie haben es verdient.“ Andrea Brettner

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