Reiches Obertonspektrum

Feldaufnahmen des WDR im Dschungel der Weltmusik — sieben CDs bei 2001  ■ Von Francis Gay

Mit dem neuen Label „World Network“ ist der Frankfurter Network Medien- Cooperative ein aufsehenerregender Coup gelungen: In Zusammenarbeit mit dem WDR sind die ersten sieben CDs dieser neuen Reihe mit ebenso authentischen wie betörend schönen Klängen aus aller Welt erschienen. Der Zweitausendeins-Versand — schon seit einigen Jahren durch Networks Findergeist inspiriert — präsentiert diese CDs unter dem Titel Aus der Schatzkammer des WDR. Hier ist den zu Superlativen neigenden Textern durchaus zuzustimmen: wahre Schätze nahm diese größte Sendeanstalt Deutschlands auf. Mit Kompetenz und Sorgfalt haben die Herausgeber daraus nun Mitschnitte der besten Musiker unseres Erdballs einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Spannweite der präsentierten Originaltöne reicht von klassisch indischer und persischer Musik über originalen Tango aus Buenos Aires bis hin zu amerikanischem Country Blues.

Entstanden sind diese Aufnahmen in einer Abteilung mit dem etwas angestaubten Namen „Volksmusik“. Während eine Hitparade der Volksmusik mit einer gehörigen Portion Unverschämtheit diktiert, was wir uns unter Volksmusik vorzustellen haben, produziert der Westdeutsche Rundfunk in aller Stille Sendungen mit Volksmusik von allen Kontinenten. Die Musik und Klänge naher oder fremder Völker spielen in unseren Medien ansonsten kaum eine oder wenn, eine völlig untergeordnete Rolle. Es gibt, auch da stehen die Deutschen in Europa allein auf weiter Flur, keine Fernsehsendung, die sich regelmäßig mit dieser Thematik befaßt. Noch nicht einmal jeder Hörfunksender präsentiert außer Konzertübertragungen ethnischer Musik innerhalb der Klassikschiene Magazinsendungen, die sich mit dem beschäftigen, was außerhalb der Studios von London, Los Angeles oder Rimini los ist. Eine traurige Realität in Deutschland, einem Land in der Mitte Europas, in dem viele Ausländer leben.

Die Abteilung Volksmusik des Westdeutschen Rundfunks in Köln gestaltet mit vier angestellten Redakteuren und 200 mehr oder weniger regelmäßigen Mitarbeitern die meisten Sendeprogramme dieser Sparte in ganz Europa. Wer nun glaubt, daß in ihren Sendungen die Wildecker Herzbuben, Zillertaler Schürzenjäger oder das Naabtal-Duo für ihren klebrigen Schlager eine weitere Spielstätte finden, irrt gewaltig. Denn der Abteilungsleiter Dr. Jan Reichow und seine Mitarbeiter lassen sich — im Gegensatz zu Dutzenden von Fernseh- oder Radioredakteuren — die inhaltliche Bestimmung des Begriffs Volksmusik nicht von Herrn Beierlein aus der Hand nehmen. Dem WDR geht es vor allem um die Musik des Volkes und nicht um Kunstprodukte, die schon längst mit dem gleichen technischen Aufwand wie Popmusik oder Schlager produziert werden. Eine Gruppe, ein Ensemble klingt eben doch anders, wenn jeder Musiker einzeln ins Mehrspurstudio geladen wird und Schicht um Schicht ein Stück entsteht. Wenn man dieses Verfahren mit einem Klischee kritisieren wollte, könnte man durchaus von Seelenlosigkeit sprechen. Die meisten Künstler werden vom WDR, wenn nicht in ihrem Heimatland, in öffentlichen Konzerten oder in Studiosituationen, die denen eines Konzertauftrittes nahekommen, mitgeschnitten.

So nahm der Sender beispielsweise schon 1977 den Südafrikaner Johnny Clegg in Johannesburg auf, zwei Jahre vor seinem ersten eigenen Album. 1981 wurde er zusammen mit dem Chor Ladysmith Black Mambazo zu einem Festival der Zulu-Musik eingeladen. Es war der erste Auftritt von Ladysmith Black Mambazo außerhalb des südlichen Afrika, und die Videoaufzeichnung dieses Ereignisses hat Paul Simon als Anstoß für seine eigene Zusammenarbeit mit dem heute weltberühmten Chor gedient.

Die Idee, Hörfunkarchive zu dokumentieren, ist nicht neu. Radio France zum Beispiel gibt schon seit den sechziger Jahren die musikethnologische Reihe „Ocora“ heraus. Ähnlich wie der vergleichbaren Unesco-Edition hängt Ocora ein arg museales Image an. Zumal auch die Begleittexte meist nur einem musikologisch vorgebildeten Publikum verständlich sind.

Die WDR/Network-Reihe öffnet die Ohren für noch heute lebendige Musikkulturen. Hinter einem genial den Konservatismus klassischer Musikeditionen zitierenden Cover von Franz Aumüller verbergen sich Begleittexte, die zwar aus der Feder von Spezialisten stammen, aber so verfaßt und redigiert wurden, daß das Lesen Spaß macht. Diese Klarheit gelingt derzeit den wenigsten Labels, die auf diesem Feld aktiv sind. Der ersten CD der Reihe — Indien: Shivkumar Sharma & Zakir Hussain, Raga Puriya Kalyan — ist ein Text beigepackt, der zunächst in das Thema „Wie hört man einen Raga“ einführt, das Handwerkszeug für einen tieferen, verständigeren Hörgenuß liefert. Denn die klassisch indische Musik mit ihren sich langsam entwickelnden Klangkonfigurationen verlangt vom Hörer eine tiefere Einfühlung. Zwar kann man eine CD nicht mit einem drei, fünf, sieben Stunden langen Konzert vergleichen, aber in der Kürze dieser Aufnahme wird die Struktur eines normalen Ablaufs geboten und das unbestreitbare Können dieser beiden Großen der indischen Musik eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Eine der größten Hoffnungen, die man mit dieser Reihe verknüpfen darf, ist, daß sie ihre Hörer auf Konzertankündigungen aufmerksamer macht. Vielleicht entgeht uns dann die hohe Kunst eines Mohamed Reza Shadjarian nicht mehr, wenn er in die Gegend kommt. Seine Konzerte werden in verschiedenen Städten Deutschlands zwar von einem tausendköpfigen Publikum wahrgenommen, das sich aber fast ausschließlich aus Iranern zusammensetzt. Shadjarians Einspielung der Dastgah Charhargah ist die bewundernswerteste CD der gesamten Reihe, weil sie eine echte Entdeckung darstellt. Was wir hier hören, gab es noch nicht, kursierte nur auf Raubkassetten. Mit packender Emotionalität singt Shadjarian, dessen Kunst sich mit der der größten Opernsänger vergleichen läßt, Texte der schon vom alten Goethe angebeteten persischen Dichter des 14. Jahrhunderts, Sa'di und Hafez. Den Hintergrund seines Gesangs bilden — wie in der persischen klassischen Musik allgemein üblich — Instrumentalimprovisationen. Fast schwerelos gleitet er von Höhepunkt zu Höhepunkt und läßt uns den Aufbau der frei improvisierten Stücke fühlen. Von vergleichbarer Emotionalität ist auch die Musik des kretischen Lyra- Spielers Psarantonis, einer weiteren großen Entdeckung. Schon beim ersten Hören werden wir uns der Insellage Kretas gegenwärtig, der vielen verschiedenen fremden Einflüsse, die hier in die Volksmusik übernommen wurden. Das teils völlig abgefahrene Spiel Psarantonis' auf seiner Fiedel drängt Parallelen zum Jazz auf. Psarantonis bewegt sich in seinen Kompositionen wie in seinen Adaptionen kretischer Voksmusik völlig frei, ist nicht einfach berechenbar. Wenn er sein Instrument wimmern läßt, wenn es kratzig von der Schönheit der kretischen Bergwelt erzählt, dann weiß man nicht, ob im nächsten Moment das Streichen des Bogens völlig unhörbar wird oder aber geradezu wild explodiert.

Gar nicht wild und viel gemessener geht es auf der CD des Sexteto Mayor Quejas de Bandoneon zu. Das innere Auge stellt sich zu den Tönen wahrhaftige alte Männer vor, die mit Gomina im Haar auftreten und mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung das Beste von sich geben. Die subtile Dramaturgie der CD reißt einen geradezu mit in die Freudenhäuser Buenos Aires', wo zu Beginn dieses Jahrhunderts der Tango das bescheidene Wochenendvergnügen halbseidener Jungs, leichter Mädchen und vom Wochenfron geschaffter Einwanderer ohne Wurzeln war, die ihre angestammte Heimat zwar verlassen, aber eine neue noch nicht gefunden hatten.

Nicht ganz nachvollziehbar ist, warum sich die Herausgeber für die Aufnahmen von Sonny Terry und Brownie McGhee entschieden haben. Während die anderen CDs wertvolle Raritäten auf dem hiesigen Plattenmarkt darstellen, gibt es vom legendären Duo des Country Blues bereits zahlreiche Aufnahmen. Bei der CD Georgien: Rustavi Choir und Duduki-Trio Omar Kelaptrishvili wurden die Gewichte zwischen beiden präsentierten Musikstilen der Region leider nicht gleichmäßig genug verteilt. Während sich der sicherlich beeindruckende Chor mit einer Fülle von historischen, religiösen und Trinkliedern präsentieren darf, kommt der samtweiche Klang der Duduki-Oboen zu kurz. Es ist bewegend, wie diese Instrumente gemeinsam agieren; man mag bei diesen betörenden Klängen gar eine spirituelle Note wahrnehmen — doch nein, es ist städtische Musik, die zum Divertimento von Zechern aufgeführt wird.

Eine spirituelle Musik anderer Art vermittelt die Nummer 7 dieser Edition mit Musik aus Zimbabwe. Diese Musik sucht tatsächlich den Zugang zu den Ahnen herzustellen. In Zimbabwe wurden verschiedene Virtuosen der Mbira („Daumenklavier“), wie der über 70 Jahre alte Frank Ngomba oder das Ensemble Muhri Yekwa Muchena aufgenommen. Traumhaft wird der Obertonreichtum dieses Instrumentes abgebildet — ein Beleg nicht nur für die Kunstfertigkeit der Mbira-Spieler, sondern auch für die der Toningenieure. Neben den Feldaufnahmen steht das Stück Mbira, eine Komposition von Kevin Volans. Statt auf der Mbira selbst, erklingt seine Interpretation der Musik der Shona auf umgestimmten Cembali. Dabei bleibt er nahe am Original, kreiert ein dichtes Tongeflecht. Kaskaden von Noten stürzen auf den Hörer ein und beweisen, daß die spirituelle Musik der Shona auch auf einem europäischen Instrument in einem Konzertsaal nichts von ihrer faszinierenden Dichte verliert.

Auf dieser Klangreise nimmt man die Stätten der vorgestellten Musikkulturen endlich einmal jenseits des hektischen, allein von der Tagespolitik bestimmten Nachrichtentransfers der Medien wahr. Der weitere Ausbau dieser ausgezeichneten Reihe dürfte sie zur bedeutendsten Basisdiskothek authentischer Weltmusik werden lassen.

Die Titel:

1Indien: Shivkumar Sharma & Zakir Hussain

2Georgien: Rustavi Choir & Duduki Trio Omar Kelaptrishvili

3Iran: Mohammed Reza Shadjarian & Ensemble Aref

4Kreta: Psarantonis & Ensemble

5Argentinien: Sexteto Mayor

6USA: Sonny Terry & Brownie McGhee

7Zimbabwe: Mbira Musicians & Kevin Volans Ensemble

Alle CDs (Stückpreis: 23,90 DM, als 7er-Set: 140 DM) im Vertrieb von Zweitausendeins.