Positive fordern ein Ende der Diskriminierung

Erstes europaweites Treffen von HIV-Positiven im niedersächsischen Göttingen/ Drastische Unterschiede bei der Hilfe und Selbsthilfe zwischen Ost und West/ Ein zynisches Grußwort von Gesundheitsminister Seehofer  ■ Aus Göttingen Jürgen Voges

Alex ist aus London zum europaweiten „Treffen“ im Waldschlößchen gereist. Aus Moskau ist Alexander in den Fachwerkbau mitten im Walde nahe Göttingen gekommen, unter dessen Dächern und Türmchen sich Schwule ein Haus für ungestörte Tagungen geschaffen haben. Der 26jährige Alex arbeitet in London bei „Body Positive“ mit, einer der ältesten HIV-Selbsthilfegruppen in Europa, die inzwischen über fünfhundert Mitglieder zählt, bei der wöchentlich über zweihundert Menschen Rat oder Hilfe in Sachen Aids suchen. Seit acht Jahren ist Alex positiv. Alexander hat vor vier Jahren seinen Moskauer Arzt bestürmen müssen, damit dieser das positive Testergebnis nicht seinem Arbeitgeber meldete.

Die Gruppe „Crocus Anti Aids“, die er hier auf dem ersten europäischen Delegiertentreffen von „Selbsthilfegruppen von Menschen mit HIV/Aids“ repräsentiert, ist keine reine Selbsthilfeorganisation, aber sie ist in der russischen Haupstadt die einzige. Mit finanzieller Unterstützung eines US-amerikanischen Handelsunternehmens bietet die Gruppe über eine „Hot-Line“ anonyme Beratungen an. Vier Psychologen und noch einmal die dreifache Zahl an freiwilligen Helfern hätten die Dienste an den Aids-Sorgentelefonen übernommen, berichtet Alexander. Nur einmal in Woche gäbe es in Moskau auch einen Gesprächskreis von Positiven, in einem Krankenhaus unter strikter Wahrung der Anonymität. Positiven drohe in Rußland der Verlust der Wohnung und des Arbeitsplatzes, und die Liebe unter Männern werde immer noch wie zu Stalins Zeiten mit Haft zwischen drei und acht Jahren bestraft.

Von vielen „Wohnungs- und Arbeitslosen“ unter den Positiven spricht auch Alex, der vor Jahren aus der Bundesrepublik nach London gegangen ist. Aber in England hat dies andere Gründe. Weil viele Positive am Existenzminimum leben, ist bei Body Positive etwa auch täglich ein billiges Mittagessen zu haben, es gibt Fahrdienste „für Leute, die zu krank sind, um sich selbst fortzubewegen“. Positiv und völlig gesund, diesen Eindruck hinterläßt Alexander. Alex sagt, über die acht Jahre hinweg habe sich die Angst gegeben. Er hat gerade eine schwere zweimonatige Infektionskrankheit hinter sich, will entweder „gesund sein oder sterben“, hat sich jetzt freiwillig gemeldet, um an einer Versuchsreihe teilzunehmen, in der ein neues gentechnisch hergestelltes Anti-Aids-Medikament getestet werden soll.

Aus dreiundzwanzig Ländern waren Delegierte zu der fünftägigen Arbeitstagung angereist. Mit Bulgarien, Polen, Rußland und Ungarn waren Positive aus osteuropäischen Ländern überhaupt zum ersten Mal auf einem solchen internationalen Treffen vertreten. Dabei wurde nicht nur eine Ost-West-, sondern auch ein Nord-Süd- oder konfessionelles Gefälle bei der Selbsthilfe und Hilfe von und für Positive registriert. In der bulgarischen Hauptstadt Sofia etwa hat sich vor einigen Monaten mit „Gemini“ überhaupt die erste Schwulengruppe gegründet, die sich als einzige Selbsthilfeorganisation im Lande auch dem Thema HIV widmet. Lediglich eine einzige Gruppe existiert bisher mit „Pluss“ auch in Budapest. Über Verdrängung und Diskriminierung führten aber auch gerade die Delegierten aus katholischen Ländern wie Portugal, Malta oder Irland Klage, in denen etwa immer noch die Werbung für Kondome umstritten ist. Partnerschaften zwischen Gruppen aus Großbritannien und den mittel- und nordeuropäischen Ländern waren denn auch ein wichtiges Ergebnis des Treffens.

Aber nicht nur über Ländergrenzen hinweg von London bis Moskau wollten sich die Delegierten verständigen und in der Ruhe des Waldschlößchens gegenseitig stärken. Das Treffen diente auch dem Dialog über die Grenzen der Betroffenengruppen hinweg. „Sex-Worker“, „Drug-User“, Hämophile, Schwule und auch drei „normale“ heterosexuelle Männer waren auf dem Meeting anwesend. Vor allem aber waren ein Viertel der TeilnehmerInnen Frauen.

In ihrer Abschlußresolution verlangten die Positiven aus ganz Europa künftig an allen internationalen Konferenzen und Seminaren zum Thema Aids beteiligt zu werden. Nicht nur Regierungsvertreter und Wissenschaftler, sondern die Betroffenen selbst müßten auf diesen entscheidenden Veranstaltungen ein Mitentscheidungsrecht erhalten. Mitbestimmen wollen die Positiven auch bei der medizinischen Aids- Forschung, bei der Ausgestaltung von Studien und bei der Erprobung von Medikamenten. Schließlich wandten sich die Positiven gegen die Kürzungen von Geldern im Bereich der Aids-Hilfen, wie sie gegenwärtig nicht nur in der Bunderepublik stattfinden.

Immerhin war auch Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer das Treffen im Waldschlößchen ein Grußwort wert. Information sei immer noch das wichtigste Werkzeug, um gegen eine Krankheit vorzugehen, die an den Landesgrenzen nicht haltmacht, lobt Seehofer das Positiven-Treffen. Doch dann forderte er die längst Infizierten auf, „über Ansteckungsgefahren zu informieren“, und mahnte: „Nur wer sich wirksam gegen Ansteckung schützt, schützt auch seine Mitmenschen.“ Als lächerlich und zynisch empfanden die Positiven dieses Grußwort. Ihr Ziel ist eine Aids-Politik, die eben nicht nur auf Prävention setzt, sondern eben auch den Betroffenen hilft. „Verantwortungsbewußtes Verhalten kann man nur von Menschen verlangen, die man nicht ausgrenzt und nicht in die Anonymität drängt“, so sagte es Birgitt Seifert vom „Positiv e.V.“, der zu dem Meeting geladen hatte. Deswegen war etwa auch die kontrollierte Abgabe harter Drogen auf dem Treffen Thema.

Für den von seiner Krankheit schon gezeichneten Alex ist die gesamte Aids-Hilfe-Arbeit allerdings letztlich nur ein „Lückenfüller“: Damit werde „nur die Zeit überbrückt, bis die Gesellschaft in der Lage ist, mit der Krankheit umzugehen“. Aids müsse als normale Krankheit akzeptiert werden, wie etwa Krebs, sagt er. Doch solange die Bevölkerung so unaufgeklärt sei, müsse man eben seine Wut gegen Ausgrenzung und Diskriminierung nach außen tragen.