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VILLAGE VOICEDer Abenteuerspielplatz Popmusik

■ »The Sweets of Sin«: Aus schottischen Geistern werden am Samstag in der Wabe freundliche Wesen

Ein aufstiegsunwilliger junger Mann spart fürs Auswandern nach Norderney, seine Stimme überschlägt sich beim Gedanken an große Geldbeträge, im Hintergrund wird breit grinsend in ein Horn gestoßen — die Welt besteht eben doch nicht nur aus zwei Hemisphären, sondern auch aus einem Ober- und einem Unterteil.

The Sweets of Sin, vier in Berlin lebende Musiker, ein Australier, ein Engländer, ein Deutscher und ein deutscher Möchtegernaustralier, deren erste gemeinsame Ton-Taten aus dem Jahr 1985 datieren, haben mit ihrer gleichnamigen CD die Schwierigkeit hinterlassen, die stilistische Minestrone halbwegs stimmig zu benennen. Pop-Varieté wäre eine der Möglichkeiten, aber genauso falsch wie das gern verwendete Etikett Avantgarde-Pop; wo das Wort innovativ nur noch ein müdes Gähnen hervorruft, könnte der Begriff Dernier Pop-cri passen. Wie mit einem Baukastensystem sind Rock und Pop, Jazz und Geräusche, Reste von Folklore aus allen Himmelsrichtungen, ein Hauch Klassik und Chansontraditionen, Kabarett und was weiß ich noch zusammengesetzt. Doch der in der Weltmusik übliche Raubzug durch orientalische, afrikanische, südamerikanische Musikkosmen ist ausgeblieben: kein Fall von Plagiat und Verkaufsstrategien à la Dissidenten.

Melodisch schmeicheln sich die Songs ein und sind doch hinterrücks durchtriebene Kompositionen, kühne Arrangements voller ungewöhnlicher Rhythmen (Drums: Daniel O'Shea Clements) und unerwarteter Brüche. Sänger Frank Mankyboddle, ein stimmliches wie auch darstellerisches Talent, ist ein melancholischer Clown, dessen Vokalausflüge keinen Grenzübertritt scheuen. Seine Stimmbänder machen vor einem kurdischen Song — eher phonetisch als kurdisch — ebensowenig halt wie vor einer grotesken Arie mit dem Titel Futurissimo.

Mankyboddle, der gebürtige Deutsche, dessen Künstlername sehr nach dem Ideenreichtum einer durchzechten Nacht klingt, hat bereits im Knabenalter im Chor gesungen; seine Stimme ist klangvoll und verführerisch, chamäleonhaft ersingt er sich zahllose Charaktere. Ganz nebenbei ist er auch der Gitarrist der Band, die für australische Verhältnisse erfreulich wenig Raum für das Rockstandinstrument übrigläßt. Stärker geprägt ist die Musik der Sweets of Sin allerdings von Steve Z., dessen Dominanz — ganz britisch — auch in der Zurückhaltung spürbar wird. Der Komponist, Texter und Bläser, der ausgebildeter Symphoniker ist, hat seine E-Musik-Wurzeln gepflegt, in seinen Kompositionen gibt es viel Raum für instrumentale Parts, die den speziellen Charakter der Songs unterstreichen. Gezielte Einsätze, eine vielseitige, luftige Percussion und die, für Rock-Pop-Verhältnisse ungewöhnliche Instrumentierung — Klarinette, French Horn, Querflöte, Sopran- und Tenorsaxophon — machen selbst aus schottischen Geistern, die in The Ghosts of the Battle-Cry durch neblig-unheimliche Moorlandschaften schweben, freundliche Wesen. Gute Unterhaltung für Melancholeriker im Reisefieber, kontraindiziert für chronische Pessimisten. Anna-Bianca Krause

The Sweets of Sin: The Sweets of Sin , kip Records 1992.

Wer die Band live erleben möchte, kann das am 27. Juni um 22 Uhr in der Wabe tun.

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