: Es bleibt immer ein Rest
■ Knut Bayer, Martin Figura, Ulrich Kühn, Dirk Lebahn: Wandarbeit in der Shin Shin Galerie
Negativität ist eine der zentralen ästhetischen Kategorien der Moderne. Ihr gemäß widmet sich Kunst der Darstellung des Undarstellbaren. Ein wirkliches Kunstwerk läßt sich nicht endgültig interpretieren und auf den Begriff bringen. Es bleibt immer ein Rest, der nicht aufgeht.
Hatte die Moderne noch daran geglaubt, daß es einer besonderen künstlerischen Anstrengung bedürfe, um solch Unerklärliches zur Darstellung zu bringen, erscheint die Realität selbst mittlerweile als so undurchsichtig, daß es keiner großen Mühe mehr bedarf, ein Kunstwerk zu produzieren. Man kann dem Betrachter alles vorsetzen.
Diese Lage hat zu einer bedauerlichen Nivellierung und zu einer Inflation schlechter Kunstwerke geführt. Die krampfartigen Versuche junger Künstler, in ihren Werken nun doch noch irgendwoher eine erhabene Bedeutung herbeizuzaubern, bewegen sich an dem eigentlichen Problem vorbei, welches lautet: »Wie kann ich in einer Situation, wo Kunst vollkommen banal und überflüssig geworden ist, als Künstler, der in vollem Bewußtsein dieser Situation dennoch Kunst machen?« — Antworten auf diese Frage werden seit 1989 im Ausstellungsraum der Shin Shin Galerie in Moabit gesucht. Eine Gemeinschaftsarbeit der vier Gründungsmitglieder Knut Bayer, Martin Figura, Ulrich Kühn und Dirk Lebahn reflektiert zur Zeit in ihrer technischen Ausführung diese Problematik gegenwärtiger Kunst und weist Auswege auf.
Die Arbeit besteht aus vier Wandzeichnungen, die nach dem Permutationsprinzip angefertigt wurden. Jeder der vier Künstler hat eine Zeichnung begonnen und jeweils die der anderen an zweiter, dritter und vierter Stelle fortgesetzt. Das Ergebnis sieht auf den ersten Blick merkwürdig unbeholfen aus. Die Zeichnungen erscheinen unfertig, skizzenhaft. Die vorgetäuschte Einfachheit ist jedoch das Produkt eines genauen Kalküls. Jeder der Künstler setzt vor die Ausführung seiner Zeichnung einen Zwischenschritt, der das Verhältnis von studienhafter Ausführung zur Perfektion eines fertigen Werkes auf den Kopf stellt.
Martin Figura und Dirk Lebahn entwickeln ihre Zeichnungen aus dreidimensionalen Modellen, die in ihrem sonstigen Werk als Module oder Wandobjekte weitergehende Verwendung finden. Knut Bayers Silhouettenfiguren entstehen aus Illustriertenfotos, die er in ihrem Umriß modifiziert, als Dia an die Wand projiziert und abzeichnet. Ulrich Kühn konstruiert seine unsicheren Linien und Lettern aus der Arbeit mit Computergrafikprogrammen.
Zwar führen solche konzeptuellen Zwischenschritte nicht automatisch aus der Kunstmisere heraus, sie dienen aber dazu, die Unsicherheit und Unfertigkeit des Endproduktes abzusichern und als solche zu markieren. Es wird nicht vorgetäuscht, daß anderes heute noch möglich wäre. Ziel ist es, die thematische Unsicherheit und Banalität heutiger Kunst in künstlerisch technischer Perfektion mimetisch nachzuzeichnen.
Über den strukturell gleichen Zugang zu Fragen der Komposition hinausgehend, verfolgen alle vier Künstler eigene Themen, die von technologischen, gesellschaftlichen, wahrnehmungspsychologischen Fragen bis hin zum Laisser-faire reichen. Keiner gibt sich besondere Mühe, auf die jeweiligen Vorgänger einzugehen oder ihnen auszuweichen. Dadurch entsteht ein möglicher Interpretationsraum der Arbeit automatisch und wie nebenbei aus den verschiedenen Ansätzen, Interessen und Handschriften der einzelnen, ohne daß einer von ihnen sich als Subjekt dafür verantworten müßte.
Beispielsweise wenn das Wort »sounding«, das Kühn anbringt, die Kreisscheiben von Lebahn zu Becken umdeutet und den Zeichnungen von Figura und Bayer etwas Schwebendes mitgibt. Ob solche Deutung zutrifft oder nicht, bleibt gleichfalls in der Schwebe und im Grunde nebensächlich. Schließlich wird solch positive Deutung des »sounding« durch die vorangehenden Negationen: »No map there / nor guide / nor voice / sounding« (eine Textzeile aus einem Gedicht von Walt Whitman), bereits wieder in Frage gestellt. Auch wenn es in seiner Positivität schön und beinahe emblematisch den Charakter der Gemeinschaftsarbeit als Improvisation beschreiben hülfe, bleibt diese Interpretation doch unentschieden.
Gerade dies ist aber das Erhebende an der Wandarbeit von Bayer, Figura, Kühn und Lebahn: daß diese Unentschiedenheit nicht aus mangelnder Beherrschung künstlerischer Mittel und Konzepte resultiert, sondern in vollem Einsatz der technischen Fertigkeiten bewußt gesucht und gefunden wurde. Es entsteht nicht der Eindruck eines Mangels, daß irgendein darzustellendes Ziel oder Kunsterlebnis nicht erreicht worden wäre, sondern ein Gefühl der Gewißheit, daß es über die dargestellte Unbestimmtheit hinaus eigentlich nichts darzustellen gibt. Die Lässigkeit und Souveränität, mit der solche Darstellung des Undarstellbaren in der Shin Shin Galerie zum wiederholten Male gelingt, sind in Berlin kaum andernorts zu finden. Werner Köhler
Bis 11. Juni, Do.-Sa. 15-18 Uhr, Waldenserstraße 2-4, Moabit.
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