: Wahnbilder re-produzierende Zumutung
■ betr.: "Wahnbildende Mapnahmen", taz vom 15.6.92
betr.: „Wahnbildende Maßnahmen“ (Katharina Rutschkys Buch über sexuellen Kindesmißbrauch) von Christel Dormagen,
taz vom 15.6.92
[...] Nachdem erst kürzlich mit der Veröffentlichung des Fotos eines mißbrauchten Mädchens (taz vom 31.3.92) die Schwelle des Erträglichen eindeutig überschritten wurde, kann die fassungslose Leserin nun erfahren, wer von der beginnenden Enttabuisierung des sexuellen Mißbrauchs von Mädchen und Jungen profitiert. Es sind dies: „Therapeuten und all die übrigen Helfer und Retter“ (anscheinend ausschließlich männlich) und — frau höre und staune — nach der Vermutung der Autorin „auch die Feministinnen“. Diese sind es letztendlich, die die zu Beginn der Rezension geschilderte Idylle („Eigentlich könnte es ein schöner Tag sein. Wie geputzt wirkt die Stadt...“) zerstören, nicht etwa der „Vater, mit seiner kleinen Tochter allein zu Hause“, der sich dem Kind nähert, es bedrängt, „aus Liebe“(!!) und schließlich vergewaltigt. Es ist nicht zu glauben: Unkommentiert werden hier in einer sich alternativ nennenden Tageszeitung die Stereotype der Täter wiederholt, um anschließend die Verantwortlichkeit für (die Entrüstung über) deren Tun den Frauen zuzuschreiben.
Nicht nur hier zeigt die Rezensentin ihre völlige Ignoranz; denn es ist völlig klar: „Sexueller Kindesmißbrauch kann nicht mit Liebe verwechselt werden, jeder Mißbraucher muß den Widerstand des Mädchens entweder mit körperlicher oder mit seelischer Gewalt brechen, um seine Handlungen an ihr ausführen zu können.“ (aus einem Informationsblatt von „Wildwasser“). Und auch von dem lustbetonten, nicht ausbeutenden Gebrauch von Sexualität (dessen „Abschaffung oder zumindest lückenlose Überwachung“ nach Christel Dormagen „im Sinne des gängigen Mißbrauch-Diskurses... die beste Heilung des Verbrechens“ wäre) hat sie offenbar keine Ahnung: natürlich sind Kinder keine geschlechtslosen Wesen, haben sie ein Recht auf das Erforschen und Erleben ihrer eigenen Sexualität, auf sexuelle Selbstbestimmung. Genau das wird ihnen aber im Falle des sexuellen Mißbrauchs verweigert, wird ihnen eine Erwachsenensexualität aufgedrängt, deren Befriedigung sie aufgrund des bestehenden Machtgefälles nicht oder kaum verweigern können.
Beim Sprechen über sexuellen Mißbrauch ist die genaue Anzahl der Mädchen und Jungen, die jährlich von Vätern, Großvätern, Brüdern, Onkeln, Lehrern und anderen — vorwiegend männlichen — Bezugs- und „Vertrauens“-personen sexuell mißbraucht werden, in der Tat zweitrangig. Entscheidend ist, daß sich durch die langsame Beendigung des Schweigens die Chance erhöht, daß betroffene Mädchen und Frauen nicht länger sich selbst als „falsch“ in einer vorgeblich „richtigen“ Welt und ihre Situation als „einzigartig“ erleben. Sie erfahren statt dessen, daß es andere Frauen gibt, denen Ähnliches passiert ist, und daß das Verbot der Täter, darüber zu sprechen, nicht nur nicht gilt, sondern Hilfe verhindert (es ist erbärmlich, das alles überhaupt noch betonen zu müssen).
Dabei könnte Christel Dormagen wissen — hätte sie sich über das, worüber sie zu schreiben vorgibt, informiert —, daß es genau um das Gegenteil dessen geht, was die Rezensentin unverfroren vermutet: keine Zementierung des „Opferstatus“, keine Rückführung zur „so leichtsinnig hergegebene(n) weibliche(n) Unschuld der Nichtverantwortlichkeit“.
Gerade in der feministischen Literatur wird betont, daß ein betroffenes Mädchen, jede erwachsene Frau eben nicht nur Opfer ist, sondern Fähigkeiten, Kompetenzen und Strategien entwickelt hat mit der Situation umzugehen, die häufig Ausdruck einer Stärke sind, die nach dem Erkennen, nach der Beendigung des Schweigens für sich selbst und ein eigenverantwortliches Leben genutzt werden können.
Dagegen passen die Begriffe Täter und Opfer da, wo sie die Verantwortlichkeit für die sexuelle Ausbeutung festlegen: diese liegt immer beim Erwachsenen, der ein Kind für die eigene sexuelle Erregung beziehungsweise Befriedigung benutzt, der die Tat plant und ausführt, klar die Grenze zwischen kindgerechter Zärtlichkeit und sexuellem Mißbrauch wahrnimmt, wenn er zum Beispiel in dem Moment mit seinen Handlungen aufhört, in dem sich eine dritte Person nähert, das Mädchen zum Schweigen verpflichtet...
Auf derartige Differenzierungen können jedoch weder Christel Dormagen noch — wie ich nach Lektüre der Rezension befürchte — Katharina Rutschky eingehen, haben sie sich doch unter dem Banner der Aufklärung der Abrechnung mit dem „mißbrauchten Mißbrauch“, der „neuesten wahnbildenden Maßnahme“, verschrieben.
Dieses Ziel vor Augen, schrecken sie selbst nicht vor der Wiederbelebung der immer nur Männer und deren Gewaltausübung (bis in strafrechtliche Vergewaltigungsverfahren) legitimierenden, leider gar nicht so „alte(n) Phantasien von Weiblichkeit als Flucht ins entlastende Neinsagen und vielleicht doch Jameinen“ zurück, die sie allerdings neuerdings in der Frauenbewegung verortet sehen wollen (ich frage mich nur: wo?).
Die Rezension von Christel Dormagen wie auch ihr Abdruck in der taz sind eine von Wahnbildern durchzogene und — schlimmer noch — Wahnbilder re-produzierende Zumutung. Sabine Platt, Mainz
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