: Lebendige Vexierbilder
■ Das Tanztheater »Les Tubes« aus Brüssel gastiert in der UFA-Fabrik
An Vexierbildern läßt sich das Eindimensionale menschlicher Wahrnehmung wunderbar studieren. Abhängig vom Blickwinkel des Betrachters, zeigt die wohl bekannteste Abbildung aus dem Lehrbuch für Psychologie zwei identische Frauenprofile, die sich tief in die Augen blicken. Dieselben Linien können aber auch die Umrandung für eine reichverzierte Vase geben. »Les Tubes«, das Tanztheater aus Brüssel, die mit anderen belgischen Gruppen zur Eröffnung des diesjährigen Trans Europe Festivals in der UFA-Fabrik spielen, sind Meister der Vexierkunst.
Auf der Bühne des UFA-Theaters hockt ein schwer identifizierbares Wesen, eine Art Gnom ohne Unterleib. Kurze stämmigen Beine stützen einen überdimensionalen Kopf. Eine Knollennase bewegt sich über einer Unterlippe, die jedem Breitmaulfrosch zur Ehre gereicht hätte. Dabei entfleuchen dem seltenen Tier schnatternde Töne, offensichtlich die Sprache dieser Rasse. Eine zweite Gestalt ist zur Zeit noch Seehund. Mal reckt er sich zu erstaunlicher Größe auf, dann entspannt er sich mit den artspezifischen ruckhaften Rumpfbewegungen auf seinem Felsblock im Meer. Doch offensichtlich bietet das Seehundleben nicht die gewünschte Erfüllung. In einer sekundenschnellen Metamorphose wandelt sich der Meeressäuger zum kurzbeinigen Fabelwesen und trägt mit hohen schrillen Tönen zur Geräuschkulisse bei.
Der Betrachter wird diese Szenen sehr unterschiedlich erleben. Schaltet man den analytischen Verstand ein, wird die Knollennase des Gnoms ohne Unterleib zum Kopf eines hockenden Menschen. Seine verschränkten Arme geben die ausladende Unterlippe, durch geschickte Bewegung beider Körperteile entsteht die Illusion eines plappernden Mauls. Das Vexierbild ist gekippt, der Zuschauer wechselt die Dimension der Wahrnehmung. In lange Würste eines dehnbaren braunen Stoffes gesteckt, verlieren die Tänzer ihre persönliche Identität. Sie sind formbare Masse, die die Evolutionsgeschichte im Zeitraffer zu präsentieren vermögen. Vier Frauen und ein Mann verbergen sich hinter den unförmigen Hüllen, erst beim Schlußapplaus stecken sie die Köpfe durch den Stoff. Was sie auf der Bühne bieten, ist mit Tanz unzulänglich beschrieben. Nicht nur, daß die Maskerade den Einsatz gängiger Tanzstile verbietet. Die Formenvielfalt lebt vielmehr von präziser pantomimischer und auch artistischer Arbeit. Wo sonst der Körper zum Medium geistiger und emotionaler Inhalte einer Choreographie wird, ordnet er sich hier einem illusionären äußeren Erscheinungsbild unter. Mit Hilfe zweier Ringe, die in etwa die Größe von Hula-Hoop-Reifen haben, entstehen die verwirrenden Gestalten, die nur noch entfernt an menschliche Wesen erinnern. Dabei werden die Reifen an unterschiedlichen Stellen der langen Stoffschläuche postiert, sind mal Schneckenhaus, mal der Leib eines Elefanten.
In der Eröffnungsszene vermutet man eine komplizierte Bühnenkonstruktion hinter der gebotenen Szenerie. Eine runde Fläche ist die Spitze eines baumlangen Objektes, darunter windet sich ein sich nach unten konisch verjüngender Körper. Wie Balzversuche eines zielstrebigen Verehrers wirken die Bewegungen des Drachenkopfes aus dem Hintergrund, der das fragile Werk umzüngelt.
Unter der Regie von Philippe de Pierpont und Nina, die außerdem auch tanzt, stellen »Les Tubes« (auf deutsch Röhren, Schläuche) die optische Wahrnehmung ihrer Zuschauer auf den Kopf. Skurril wie die Wesen auf der Bühne ist die Live-Musik von Cello und Posaune. Die Musiker sitzen vor der Bühne und untermalen die Szenen mit schrägen Improvisationen. Eine Leinwand am Bühnenende gibt mal den beleuchteten Hintergrund für das Geschehen, mal wird sie mit den Schatten der Tänzer zum Bestandteil der Choreographie. Jantje Hannover
Bis zum 28.6., 21 Uhr, UFA-Fabrik, Viktoriastraße, Tempelhof.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen