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Angst vor der Armut

Wo die Angst am größten, ist die Wahrheit am nächsten  ■ Von Frank Schüre

Haben Sie Angst vor der Armut? Wenn Sie jetzt nein sagen, verdrängen Sie und sind ein Fall für Wolf Wagner. Gestehen Sie Ihre Angst ein, so befinden Sie sich auf dem richtigen Weg, ihrem Verhältnis zur Armut näher zu kommen. Warum sollte ich das tun? könnte man jetzt fragen — wo doch der moderne Mensch die Armut meidet wie der Teufel das Weihwasser. Gerade deswegen sollten Sie es tun! Weil die Angst vor der Armut so groß wie verbreitet ist, sollten wir uns mit ihr konfrontieren. Denn wo die Angst am größten, ist die Wahrheit am nächsten, meint Wolf Wagner und schrieb ein Buch über die Angst vor der Armut. Darin geht er nach der Methode Albert Einsteins vor, die besagt, daß der erkennende Mensch so weit sieht, wie er seine persönliche Betroffenheit in den Erkenntnisprozeß einbezieht. Nach Wagners Ansicht krankt die bisherige Diskussion über die Armut an diesem Punkt. Er empfiehlt daher nicht nur der Sozialwissenschaft die Angst als Weg, um mehr über die Armut zu erfahren, als die objektive Methode bisher entdeckt hat — was wahrlich nicht sonderlich viel ist.

Gänzlich hilflos und verloren hat man sich zum ersten Mal als Kind gefühlt, stellt Wolf Wagner fest und fährt fort, daß diese Erfahrung und alle sie begleitenden Schrecken Dinge sind, dem sich niemand gerne aussetzt. Genau damit aber droht die Armut: sie mobilisiert neben der berechtigten Angst vor ihrem Gefolge noch diejenige kindlicher Vergangenheit und damit mehr, als der normale Sterbliche verkraften möchte. „Es ist deshalb durchaus systemkonform, wenn es in allen Bereichen der Sozialpolitik eine unterste Gruppe von Dauerklienten gibt, deren Not am größten ist und denen die Sozialpolitik dennoch nicht heraushilft“, schreibt der Autor. Denn dann lenken alle anderen das energetische Potential ihrer Angst auf die Flucht nach vorn. Diese Flucht heißt Arbeit; sie erfüllt die gültigen Normen, die auch besagen, daß die Armen zumeist selber schuld sind an ihrer Lage: Arbeit adelt, und wer nicht arbeitet, trägt die Konsequenzen.

Seit dem Jahr 1370 gibt es in Deutschland Behörden, die den Armen ihre Schuld drastisch vor Augen führen. Angefangen bei der „Bettelbehörde“ in Nürnberg bis zum heutigen Sozialamt bekämpfen die Verantwortlichen die Armen anstatt die Armut. Die gesellschaftlichen Randgruppen funktionieren dabei „als Demonstrationsobjekte, sie zeigen, wohin der soziale Abstieg führen kann“, so Wolf Wagner. Das zeigen sie genau den Menschen, die bereits auf der schmalen Kante zwischen komfortablem Gehsteig und Gosse balancieren.

Was Wagner darüber erzählt, kann einem Angst und Bange machen - und dabei bleibt es leider auch. In der zweiten Hälfte seines Buches unternimmt Wagner dann eine — für den Neuling sicher informative — Führung durch den Dschungel des Sozialstaats. Der Autor begeht dabei genau den Fehler, dem er eingangs mit Bezug auf Einstein abgeschworen hat: er begibt sich in die wissenschaftlich-objektive Position und entdeckt darum nicht mehr, als im Grunde jeder schon weiß — oder zumindest ahnt.

Wolf Wagner beschreibt den so militanten wie erfolgreichen Klassenkampf der Ärzte, die weite Sumpflandschaft bundesdeutscher Sozialsicherung, die Schrecken von Heimkarriere, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit und beschließt seinen Klageruf über die Schikane der Behörden, indem er ein garantiertes Grundeinkommen fordert. Wagner sieht, daß ein Mindesteinkommen das Armutsproblem nicht lösen, sondern nur lindern würde. Was er nicht sieht, ist, daß er mit seiner Forderung danach genau die Grundwerte der Gesellschaft protegiert, mit denen wir die Angst vor der Armut verdrängen.

Die Maler und Dichter sowie er selbst als Indienreisender dienen dem Autor als Beispiel für die von ihm positiv verstandene „selbstgewählte Armut“. Er denunziert damit seinen eigenen Anspruch. Denn der Genuß des Indienreisenden basiert auf dem Flugticket zurück in die Erste Welt, das er auf der Brust trägt. Und wenn ich mich entscheide, zu malen und zu dichten, dann wähle ich nicht die Armut. Was Wagner meint, aber nicht sagt, ist selbstgewählte Arbeit, die untrennbar ist vom Verzicht auf materielle Werte.

Die Angst vor der Armut ist offensichtlich eine vor der Wirklichkeit. Die Konfrontation mit der Angst könnte ergeben, daß sie berechtigt ist.

Wolf Wagner: Angst vor der Armut , Rotbuch Verlag, 12 DM.

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