piwik no script img

„Der Gestank macht uns krank“

■ In der Berliner Brückenstraße stinkt's zum Himmel/ Rekord an Luftschadstoffen in der Hauptstadt

Für die drei Damen war es bis vor wenigen Tagen noch nicht vorstellbar, daß sie den Verkehr vor ihrer Haustür für Minuten stoppen könnten. Täglich rollen 25.000 Autos, 3.100 Lastwagen und 600 Busse durch die Brückenstraße, die den West- und Ostteil der Stadt über die ehemals trennende Spree hinweg verbindet. Nun sitzen Margot Dörnbrack (68 Jahre), Regina Klatt (49) und Ingeborg Zieting (72) mitten auf der Straße, die Stühle sowie Kaffee und Kuchen haben sie mitgebracht. Der Verkehr steht.

Etwa 100 Anwohner sind in der vergangenen Woche zu der Kundgebung mit Transparenten und Kinderwagen gekommen und wollen sich auf der Straße „Luft machen“. „Der Gestank macht uns krank“, sagt Margot Dörnbrack. Und das ist nicht nur ein Eindruck. Die Brückenstraße in dem Berliner Bezirk Mitte ist die mit Luftschadstoffen am stärksten belastetste Straße in der ganzen Stadt. Hier wird sogar der EG- Grenzwert von 200 Mikrogramm Stickoxid auf einen Kubikmeter Luft überschritten. Zu dem Ergebnis ist eine „Studie zur ökologischen und stadtverträglichen Belastbarkeit der Berliner Innenstadt durch den Kfz- Verkehr“ gekommen, den noch die frühere grüne Umweltsenatorin Michaele Schreyer in Auftrag gab. Berlin ist das erste Bundesland, das die Luft- und Lärmbelastungen durch den Autoverkehr in der Innenstadt so genau untersucht hat.

Die Anwohner protestieren auch aus Enttäuschung. Denn trotz der dramatischen Alarm- und Grenzwertüberschreitungen in ihrer Straße rollt der Verkehr wie eh und je an Gemüseladen, Bekleidungsgeschäft und Fotobedarfshandel vorbei. Schreyer-Nachfolger Volker Hassemer (CDU) hat zwar die Studie im Frühjahr vorgestellt, doch noch immer donnern durch die 15 Meter schmale Gasse genauso viele Laster wie durch die sechsspurige Frankfurter Allee — eine der wichtigsten Ausfallstraßen Berlins.

Etwa jeder 50. Bewohner der Brückenstraße müßte das Risiko in Kauf nehmen, an Krebs zu erkranken, wenn er sein Leben lang in der „giftigsten“ Straße Berlins wohnen würde. Diese Risikoabschätzung ergibt sich aus einem Bericht, den die Länderarbeitsgemeinschaft für Immissionsschutz erstellt. Darin schätzten Vertreter der Umweltministerien erstmals das Krebsrisiko von Luftschadstoffen ab.

Robert Vogel, Leiter der Abteilung Umweltmedizin in der Gesundheitsverwaltung Berlins, sagt, daß die Schadstoffwerte in der Brückenstraße „sehr stark beachtet werden“. Doch einzelne Straßen zu sperren sei eine sehr fragwürdige Maßnahme, weil der Verkehr dann andere Wege suche. Deshalb seien die Verkehrs-, die Gesundheits-, die Umwelt- und die Wirtschaftsverwaltung dabei, in einer „konzertierten Aktion“ ein Konzept für die Reduzierung der Luftschadstoffe in der Berliner Innenstadt zu erarbeiten.

Ohne die Zustimmung der anderen Behörden aber will Vogel weder Konsequenzen aus der Berliner Belastungsstudie noch aus dem Abschlußbericht des Landesausschusses für Immissionsschutz ziehen: „Wir müssen das Problem global betrachten.“ Es sei ein Erfolg, daß man sich überhaupt zusammensetze, denn eine so enge Zusammenarbeit beim Thema Verkehr sei in der Vergangenheit nicht üblich gewesen. „Wir müssen Schritte in Richtung autofreier Stadt machen“, sagt der Abteilungsleiter. Vor konkreten Maßnahmen fordert die Gesundheitsverwaltung aber aussagekräftigere Untersuchungen. Sie plant vorerst, ab Herbst 800 Berliner Innenstädter auf Herz und Lunge abzuklopfen. Durch Befragungen und medizinische Untersuchungen soll genauer als bisher geklärt werden, wie gefährlich das Wohnen an dichtbefahrenen Straßen wirklich ist. Mit Ergebnissen ist nicht vor Ende 1993 zu rechnen.

Seit die Anwohner gemeinsam mit dem BUND in der vergangenen Woche zweimal für zehn Minuten die Brückenstraße blockierten, rollt der Verkehr wieder — zumindest außerhalb der Rush-hour. Der BUND fordert mit der Fraktion Bündnis 90/Grüne, daß Berlins giftigste Straße für den Autoverkehr sofort gesperrt wird. Der Umweltverband droht, vor Gericht zu gehen, wenn die Verkehrs-, Umwelt- und Gesundheitssenatoren von sich aus nichts für die Gesundheit der Anwohner unternehmen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen