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Mutter, Vater, Dolch

Friedrich A. Kittlers „Dichter Mutter Kind“. Auf den Spuren der Kleinfamilie  ■ Von Christoph Danelzik

Als Dan Quayle, der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, nach dem Aufstand in Los Angeles die intakte Familie als Heilmittel der kranken Gesellschaft pries, versagte dieses alte Hausmittel konservativen Populismus. Die halbe Nation beschimpfte ihn, weil er die TV- Serienheldin Murphy Brown verteufelt hatte, die ausgerechnet eine intakte vaterlose Familie vorführt. In den sechziger Jahren, als der Pillenknick sichtbar wurde, gehörte es hierzulande ebenso zur Gesellschaftspolitik, die Kleinfamilie und „das Leben zu zweit“ zu verdammen mit dem Hinweis auf die goldene Zeit der Großfamilie. Später stellte sich heaus, daß die Großfamilie als Modell eine Fiktion ist. Jünger ist die Erkenntnis, daß die bürgerliche Kleinfamilie in ihrer Entstehungszeit, von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert, „ein Code und kein Sozialgeschichtsfaktum“ war; Friedrich Kittler unternimmt es, dies nachzuweisen. Als Literaturwissenschaftler besitzt er die Voraussetzungen zum Verständnis bürgerlicher Frühgeschichte; schließlich ist der genannte Zeitraum als Epoche der Aufklärung und Romantik vom literarischen Diskurs bestimmt wie kein zweiter. Kittlers Buchtitel verheißt ein verblüffend modernes Ergebnis: Schon damals war der Vater so gut wie verzichtbar.

Der Titel seines Buches, Dichter Mutter Kind, verweist erstens auf die Abwesenheit des Vaters, zweitens trotzdessen auf die Anwesenheit des männlichen Geschlechts bei der Konstituierung der Familie, und drittens auf einen Perspektivwechsel des Verfassers. Indem Kittler den Dichter ins Spiel bringt, bezieht er den literarischen Diskurs in den familiären ein. In seinen Worten sind Autoren wie Lessing, Goethe und E.T.A. Hoffmann Programmierer. Um im Bilde zu bleiben, sind ihre Texte eher „Benutzeroberfläche“ als „Quellcode“. Erläuternd wählt Kittler die Geschichten zweier Ritter: Wolfram von Eschenbachs Parzival und Ludwig Tiecks Blonden Eckbert. Jener wird über seine Sippe bestimmt, während dieser, Hauptfigur eines romantischen Märchens, in das wirre Schicksal einer aus psychischen Beziehungen konstituierten und durch Intimität abgegrenzten Familie verstrickt ist.

Warum nun wird im 18. Jahrhundert die Familie umcodiert? Kittler beantwortet diese Frage nicht selbst, aber er gibt verschiedene Hinweise. Eltern-Kinder-Beziehungen liegen Übertragungen zugrunde. Weitergegeben werden Einstellungen und seelische Formungen, Gene spielen keine Rolle. In Goethes Wahlverwandtschaften (1809) trägt das Neugeborene nicht die Gesichtszüge der leiblichen Eltern, sondern diejenigen ihrer jeweiligen Geliebten. Aufschlußreich ist der Perspektivwechsel: Einerseits versuchen die Väter systematisch, ihre Töchter zu beeinflussen, andererseits offenbaren die Söhne die Einwirkung ihrer Mütter auf die eigene Entwicklung. Väter müssen Erziehungsarbeit leisten, Mütter tun's einfach, darüber sprechen dürfen die Männer. Kittler führt Beispiele aus zwei Ebenen an. In Lessings Dramen Nathan der Weise, Emilia Galotti und Miss Sara Sampson dominieren väterliche Kunstfiguren; Goethe beschreibt in seinen Memoiren die unterschiedliche Einflußnahme seiner Eltern auf ihn.

Vom Zweckverband zur intimen Kleingruppe verwandelt sich die Familie. Friedrich Kittler skizziert diesen Prozeß chronologisch: Lessing und Diderot hätten zunächst das Entstehen des Vaters beschrieben. Damit ist ein Funktionswandel gemeint vom Haushaltsvorstand zum Erzieher. Möglich wurde er durch die Entdeckung der Kindheit. In dem Märchen Der Blonde Eckbert von Ludwig Tieck (1797) flieht die achtjährige Bertha aus dem Elternhaus, weil sie sich nach Meinung ihres Vaters nicht genügend nützlich macht. Von einer Einsiedlerin, einer weißen Hexe, in deren Obhut sie gelangt, wird sie erstmals als Kind behandelt. Diese Episode des Märchens steht, als Rückblende, für eine vergangene Zeit. Kittler stellt an seinem Beispiel dar, wie stark das Bedürfnis nach Intimität am Jahrhundertende war.

Eine weitere Stufe wird mit der Aufwertung der Mutter erreicht. Eine Mutter ist es, die „Warte nur, balde/ Ruhest du auch“ in Wandrers Nachtlied singt. Und Mutterliebe steht im Zentrum von E.T.A. Hoffmanns Detektivgeschichte Das Fräulein von Scuderi (1820). Ihr gelingt es nämlich, was der inquisitorischen Polizei im Paris zur Zeit Ludwig XIV. mißlang: eine Mordserie aufzuklären und ihren — nicht leiblichen — Sohn vom Verdacht zu befreien. In Novalis' Klingsohr-Märchen, in Heinrich von Ofterdingen (1802), wird die Existenz der Mutter getilgt — sie wird verbrannt —, um zum Zentrum der Familie verabsolutiert zu werden.

Familienleben in der Literatur zwischen Aufklärung und Romantik verläuft nicht als spießige Seifenoper. Deshalb überrascht es nicht, daß die vom Autor untersuchten „Protokolle“ statt Alltagsproblemen Grenzsituationen und extreme Konstellationen dokumentieren. Leibliche Elternschaft interessiert weniger als ideelle und durch Gefühle hergestellte und fast jeder Text enthält inzestuöse Motive. Darin unterscheidet sich, so Kittler, die bürgerliche von der „alteuropäischen“ Familie: durch die Verlagerung ihrer Bindungen von sozialen und biologischen auf psychische Elemente.

Glücklich werden die Kinder dadurch selten. Nicht so sehr selbstlose Liebe als zwanghafter Machtdrang bestimmt die Verhältnisse. Um die Familie aufrechtzuerhalten, werden auch Lebensopfer in Kauf genommen, beispielsweise mit Emilia Galottis Selbstmord: Ihr Vater reicht ihr den Dolch. Von solchen Belastungen frei zeigt sich einzig Bettina von Arnim. Wenn die Aufnahme des Textes über ihre Briefe in ein der Familie gewidmetes Buch gerechtfertigt ist, dann nur deshalb, weil sie alles Familiale hinter sich läßt und sich seltsam frei zeigt von den ihren Geschlechtsgenossinnen per Erziehung auferlegten Bedrückungen.

Familienforschung ist ein zunächst soziologisches Feld. Friedrich Kittler berücksichtigt die historische Anthropologie leider kaum. Sein psychoanalytischer Ansatz läßt immer dann Fragen offen, wenn seine Aussagen über die Beschreibung des Codes der „Familie“ hinaus die Sozialgeschichte berühren. Sobald Kittler sich der Geschichte annimmt, beispielsweise in einer Ergänzung seines Aufsatzes über die Wahlverwandtschaften, wird die Verankerung des familialen Codes in seiner Zeit deutlicher.

Ein wirklicher Fehler war es, die überwiegend bereits zwischen 1977 und 1981 veröffentlichten Aufsätze kaum verändert erneut abzudrucken. Kittler, der sich im Vorwort bei seinen LeserInnen dafür entschuldigt, „einem alten Medium alte Geschichten anvertraut“ zu haben, hätte, von ihnen ausgehend, ein richtiges Buch schreiben können. Offensichtlich schrieb er die Aufsätze seinerzeit mit unterschiedlichen Zielsetzungen und verschiedenen Rezeptionsformen zugedacht. Diese Uneinheitlichkeiten blieben beibehalten; sie führen zu Redundanzen und erschweren die Lektüre unnötig. Anders als vom Autor intendiert, nämlich stilistisch, ist Kittlers Dichter Mutter Kind nur ein „nachträgliches Vorspiel“ von Grammophon Film Typewriter.

Friedrich A. Kittler: Dichter Mutter Kind . Wilhelm-Fink-Verlag, München 1991, 38 D-Mark.

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