: SOMNAMBOULEVARD — MENTALMUSEUM Von Micky Remann
So als ob man klarträumend im Gehirnkeller spazieren ginge, mit einer Grubenlampe in der Hand, und als ob alles, was man dort vorfände an Gedanken, Vorstellungen und Plänen nichts als Museumsstücke seien, leblos und fremd wie etruskische Pißpötte im Glasschaukasten. So als ob diese Antiquitäten irgendwann im Gehirn abgelegt worden seien, und man wüßte gar nicht mehr von wem, war man es selbst, oder war es jemand anders, und warum überhaupt? So als ob man dort die Streitaxt des neolithischen Hordentums begaffte, die Mumien der Müdigkeit, den assyrischen Altar der harten Herzen, das gotische Klappvisier der Einfalt, den Barockspaten der Gschaftlhuberei nebst anderen Exponaten, die, eingraviert in die Tiefen des Schädels, dort unsichtbar vor sich hinstagnieren. So als ob man im Traum rätselte, was die Altertumssammlung denn zu bedeuten habe, ob neben dem Sperrmüll vielleicht einige lohnende, sogar heroische Überlieferungen mit dabei sind, in deren Schatten man sich stellt, wenn von anderswo gerade keine Kraft zu holen ist. Oder ob es doch mehr die kalten, vergangenen Doofheiten sind, Möpse und Zombies in der Endlosschleife, die, längst tot und passé, sich durch die Stollen des Gehirns füttern, indem sie Lebendiges auf Nimmerwiedersehen in sich verschwinden lassen. So als ob man prüfen möchte, wieso zum Teufel man sich einige der blühendsten und duftendsten Bewußtseinssynapsen in solche Vitrinen hat einschließen lassen und warum man den mentalen Restetisch für den Formenreichtum der Intelligenz zu halten bereit war, ohne sich der Verwechslung bewußt zu werden. So als ergäbe sich der Eindruck, daß ganze Chefetagen, ob schlafend oder wachend, mehr mit staubtrockenen Gähn-Statuen zugestellt als mit unterhaltsamen Feen bevölkert seien, und als ob man bezweifelte, ob es wirklich so weise war, seinen Grips auf das Archivieren scheintoter Reliquien zu verschwenden, statt neurologisch Schöpfersprünge zu vollführen. So als ob man anfinge, die Backsteingruben auf dem Somnamboulevard luzide zu perforieren, Ausflüge zu machen, um statt im Mentalmuseum zu vermiefen lieber dort herumzuschlendern, wo der Flux der Sinne mit den beweglichen Teilen der Umwelt kommuniziert und wo man in kreislaufstärkende Energiezwiebeln beißen kann, die auf Ansprache reagieren, unvorhersehbar wie man selbst, dafür aber mindestens so gewitzt. So als ob man sich in der freien Wildbahn umschaute, wo es ganz unmuseal vibriert und gewittert und wo einem prompt der Panther der Liebe entgegenkommt, der Adler des Scharfsinns, der Wal der sehnenden Trauer, das Kaninchen der Berührungslust, der Engels-Pfau der Halluzination und die Mikroben fürs Kompostieren neuronaler Bleigürtel.
So als kehrte man schließlich „Geh' aus mein Hirn und suche Freud“ pfeifend, mit seiner Grubenlampe ins Mentalmuseum zurück, und die Exponate dort wären entweder lebendig geworden oder verschwunden.
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