: „Meine Zukunft? Parzelle sag ich!“
■ Bald soll das Parzellengebiet Weidedamm III abgerissen und bebaut werden — ein Spaziergang in die Zeit davor
„Ich hab meine Mutter gefragt, warum wir damals hier rausgezogen sind. Sie hat gesagt, damit wir Kinder in Freiheit aufwachsen können. Das stimmt schon, aber damals fand ich es schrecklich peinlich, daß wir unser Klo draußen hatten, und auch keine Einbauküche, wie andere Familien.“ Sonja sagt das, 21 Jahre alt und eine der wenigen jungen Leute, die im Parzellengebiet Weidenbaum III nicht nur geboren und aufgewachsen sind, sondern immer noch hier leben — nach einer kurzen Stadtwohnungsphase zugebenermaßen. Jetzt wohnt sie in einem eigenen Häuschen, ohne Einbauküche immer noch, aber mit Innenklo und will nie wieder in die Stadt ziehen. Im verwilderten Vorgarten spielen kleine Katzen, zwischen Büschen und hohen Gräsern lagern zwei Autowracks. Sonjas Freund, der Autoschlosser, bastelt daran, ohne nachbarschaftlichen Protest. Die strengen Normen deutscher Schrebergartengesetze gelten nicht am Weidenstamm III, kein Verein hebt seinen Ordnungsfinger.
Sonjas Mutter Ingrid Winter hatte recht mit dem Hinweis auf die große Freiheit im ältesten Kleingartengebiet Bremens. Nach dem Krieg nämlich erlaubte Altbürgermeister Wilhelm Kaisen eine Art Claiming auf dem 26 qm großen Gelände. Wer sich ein neues Heim baute, aus Bombenschutt und Trümmerziegeln, der erhielt Wohnrecht auf Lebenszeit, für sich und die Angehörigen, die vor 1939 geboren sind. Erfindungsgeist und Aufbaumut waren gefragt, und so leben auch die Eltern Winter in einer Mischung aus Eigenheim und Villa Kunterbunt, wie die meisten „Kaisenbewohner“. Winters sind allerdings erst 1971 „auf die Parzelle“ gezogen, als die alte Wohnung fürs dritte Kind zu klein geworden war und neuer Wohnraum teuer. Sie konnten das Häuschen an der Karl-Thomer- Allee, einem 3 Meter breiten Sandweg, von der Erbin einer „Ureinwohnerin“ mieten, für'n Appel und'n Ei. Jetzt haben Winters 4 Hunde und 5 Katzen und einen in der winzigen Küche krächzenden Papagei. „Die Leute sind gar nicht so überkandidelt hier, wie das immer alle denken“, sagt Mutter Winter, „nur können wir Sachen machen, die in der Stadt nicht gehen. Die Neubautler von nebenan stolpern hier mit ihren Hunden durch und sagen, wir seien asozial. Aber wo würden sie ohne unsere wunderschönen Gärten spazierengehen?“
Das wissen auch die „Neubautler“ nicht, und deshalb finden sich selbst unter ihnen Mitglieder der Bürgerinitiative „Grüner Weidendamm“. Das Parzellengebiet Weidendamm III hat bis jetzt den Bauboom überlebt, weil vor ihm Weidendamm I und II neubebaut wurden. Inzwischen aber droht der Abbruchbagger. Grundstücksfirmen haben vor allen den alten und leicht verunsicherbaren Bewohnern ihre Parzellen abgekauft und betreiben reichlich Werbung. Als Gegenmaßnahme hängt eine Bürgerinitiative überall Informationszettel und Versammlungseinladungen aus. „Ich geh da aber nicht hin“, sagt Frau Winter, „die sind mir zu radikal, die werfen ja sogar dem Grünen Fücks Äpfel und Birnen ins Rathaus. Und — das hilft doch alles nichts!“
Geholfen werden müßte aber, das findet auch Mutter Winter: „Mit den Menschen hier, das geht ja noch, die könnten im Notfall auch woanders leben. Aber die Tiere! In den Hecken, im Gebüsch nisten so viele Vögel, Grünfink, Gimpel und Mönchgrasmücke, Rotkehlchen ...“ — sie hört gar nicht mehr auf — „... und Pfauen, einen Bussard, einen Falken —“
Zwischen den bebauten Grundstücken finden sich immer wieder auch wildwüchsige Brachflächen, ökologische Nischen für Pflanzen, Kleintiere und Insekten. Nicht alle Menschen sind so gelassen wie Frau Winter. Tocher Sonja bekommt ganz weiche Augen, wenn sie sagt, daß sie es nicht ertragen könnte, wenn ihr Elternhaus eingerissen würde. Und der uralte Nachbar Heitmann, der schon seit 1949 am Weidedamm wohnt und sein wie das Spielzeugmodell eines Kleinbürgertraumes wirkendes Häuschen eigenhändig gemauert hat, er zuckt mit einem bedenklich müden Lächeln die Achseln, wenn er sich zum Umzug äußern soll. „Damals, ja, da hat der Kaisen gesagt: Jungs, ich will euch helfen, ein Grundstück kriegt ihr, aber die Steine aus dem Schutt holen und einen Handwagen organisieren und aufbauen, das müßt ihr selber schaffen — und wir haben es geschafft! Das waren die glücklichsten Jahre.“ In seinem Haus lebt Herr Heitmann seit dem Tod seiner Frau ganz allein, in der Siedlung aber kennt ihn jeder, und in der Nähe wohnen noch einige Alte, Mitkämpfer von früher, „Ureinwohner“. „Ich will hier nicht weg“, sagt Heitmann, „aber wenn sie mich enteignen? Dann verkauf ich schon lieber...!“
Familie Winters Mietvertrag läuft noch bis 1994 und wird nicht verlängert. Nach einem Rundgang durch Haus und phantasievollen Garten befragt, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt, antwortet Mutter Winter ohne nachzudenken: „Meine Zukunft? Parzelle! sag ich — in Walle, am Fleet, da gibts noch welche, da zieh ich hin.“
Cornelia Kurth
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen