: Der Charme der Meeresprinzessin ist verflogen: Die Copacabana wird 100
Die Copacabana wird 100
Rio de Janeiro (taz) — Einst war sie die „Prinzessin des Meeres“ und das „Hollywood Brasiliens“. Heute haben Heerscharen von fliegenden Händlern, Bettlern und Straßenkindern ihr den jugendlichen Charme gestohlen. Copacabana: hundert Jahre nach der Gründung des berühmtesten Stadtteils Rio de Janeiros kommt die Sehnsucht nach der guten alten Zeit auf.
Vor hundert Jahren, als die Straßenbahn zum ersten Mal an die Copacabana fuhr, war der Strand fernab vom Zentrum noch ein ruhiger Ausflugsort für das Familienpicknick am Wochenende. Jahrzehnte später, mit der Einweihung des Luxushotels „Copacabana Palace“ im Jahr 1923, avancierte der neue Stadtteil zur vornehmen Adresse. Der damalige Präsident Brasiliens, Epitacio Pessoa, der das Projekt anregte, wollte Filmstars und Staatsoberhäuptern eine angemessene Unterkunft bieten. Kurz darauf standen in Copacabana bereits 70 Wohnhäuser, darunter die ersten Wolkenkratzer Brasiliens mit zehn Stockwerken.
Der Zauber der „blauen Aussicht“, wie die Indianer Copacabana nennen, entfaltete sich erst richtig nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In der Atmosphäre von salziger Luft, blauem Himmel und schäumendem Meer entstand die aufsehenerregende knappe Bikinimode, der melancholische Bossa Nova, der freizügige Flirt am Strand und das erste Stundenhotel von Rio. Auf den 5,6 Quadratkilometern zwischen Meer und Hügeln wurde die Mode für ganz Brasilien entworfen.
Als die Hauptstadt des Landes 1960 von Rio ins Landesinnere nach Brasilia verlegt wurde, verflog der Zauber in Windeseile. Die Wirtschaftskrise, die seit den 80er Jahren an dem größten Land Lateinamerikas nagt, hat auch die „blaue Aussicht“ verdüstert. Das Touristenzentrum hat die höchste Diebstahlsrate der Stadt. Die Flucht der Bevölkerung vor den häufigen Raubüberfällen hat bereits begonnen: Über 10.000 Einwohner kehrten in den letzten zwanzig Jahren dem berühmten Viertel den Rücken.
Die UNO-Konferenz für Umwelt und Entwicklung im Juni ließ den Glitter und Glamour der Vergangenheit noch einmal kurz aufleben. Die Luxushotels an der vier Kilometer langen Strandpromenade beherbergten Politiker, Diplomaten und Journalisten aus aller Welt. Restaurants und Bars mit Meeresblick waren rund um die Uhr damit beschäftigt, die illustren Gäste zu bewirten.
Noch harrt die Mehrheit der 220.000 „Copacabanaer“ in der Hoffnung auf bessere Zeiten aus. „Ich gucke jeden Tag mindestens zehn Minuten aufs Meer, daraus beziehe ich meine Kraft“, meint Leonel Brizola, Gouverneur des Bundesstaates Rio de Janeiro. Nach seiner Rückkehr aus dem politischen Exil in Uruguay im Jahre 1980 am Ende der brasilianischen Militärdiktatur kaufte er sorfort eine Wohnung an der „Avenida Atlantica“.
Die ältere Generation beharrt am hatnäckigsten auf ihrer Leidenschaft zur verlassenen „Meeresprinzessin“. Sobald die Sonne aufgeht, noch bevor die Straßenkinder aus ihren Pappkartons kriechen, treffen sich die Rentner zum Frühsport am Strand. Nachts spielen dort Jugendliche bei Flutlicht Volley- oder Fußball. Während sich auf dem Bürgersteig neben ihnen die Jogger warmlaufen, zeigen auf der anderen Straßenseite Transvestiten ungeniert ihre Verführungskünste.
Auf Anthropologen und Architekten übt dieses „Labor städtischer Verhaltensweisen“ eine ganz besondere Anziehungskraft aus. Für den Architekten Augusto Ivan ist das Viertel eine „echte Metropole“, weil dort auf engstem Raum Menschen aller sozialer Schichten das Zusammenleben proben: „Die einzige Lösung ist, die Gegensätze miteinander zu verbinden“, meint er. Astrid Prange
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