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„Lebenssachverhalt Kindererziehung“

■ Karlsruher Verfassungsrichter fordern bessere Altersversorgung für Mütter/ Erziehungsarbeit muß stärker bei Rentenberechnung berücksichtigt werden/ Trümmerfrauenregelung bleibt rechtens

Karlsruhe (ap/dpa/taz) — Erziehungsarbeit muß sich künftig rentensteigernd für Mütter auswirken. Zu dieser Entscheidung ist gestern einstimmig der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts gekommen. Damit verpflichteten die Karlsruher Richter den Gesetzgeber, künftig der Kindererziehung bei der Rentenberechnung für Frauen in höherem Maße Rechnung zu tragen als bisher. Mit jedem Reformschritt zur Verbesserung der gesetzlichen Altersversorgung solle die bestehende Benachteiligung verringert werden.

In der Karlsruher Entscheidung heißt es, trotz aller staatlichen Bemühungen um einen „Familienlastenausgleich“ werde bis heute „die Kindererziehung als Privatsache, die Alterssicherung dagegen als gesellschaftliche Aufgabe“ angesehen.

Gleichzeitig wies der Senat unter Vorsitz von Gerichtspräsident Roman Herzog mit dem Urteil die Beschwerden von zwei „Trümmerfrauen“ ab, die sich durch die geltende Regelung zum „Babyjahr“ benachteiligt sahen. Im Mittelpunkt der Klage beider Frauen und einer Vorlage des Sozialgerichts in Detmold stand das Erziehungszeitengesetz vom Juli 1985 und das Kindererziehungsleistungsgesetz vom Juli 1987. Gerügt wurde dabei besonders, daß die Kindererziehung nicht finanziellen Beiträgen zur Rentenversicherung gleichgestellt wird.

Eine der beiden Klägerinnen, Maria Weber (71), verwitwet und Mutter von fünf Kindern, erhielt mit ihrem ersten Rentenbescheid ganze 391 Mark zugesprochen. Sie klagte dagegen, daß Mütter der Jahrgänge vor 1921 — deren Generation nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich an der Beseitigung der Trümmer in den zerbombten Städten beteiligt war— schlechter gestellt werden als die danach geborenen, denen per Gesetz von 1987 ein „Babyjahr“ auf die Renten angerechnet wird.

Mit dem Gesetz über die Anerkennung von Kindererziehungszeiten wurde Müttern, die am 1. Januar 1986 noch nicht 65 Jahre alt waren, erstmals für jedes Kind, das sie erzogen haben, ein Jahr in der Rentenversicherung gutgeschrieben. Den vor 1921 geborenen Müttern wurden Kindererziehungszeiten erst später gutgeschrieben.

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte nun, daß der Gesetzgeber dabei innerhalb seines verfassungsmäßigen Spielraumes gehandelt habe, der eine „Stichtagsregelung“ wie im Fall der Trümmerfrauen einschließe. Diese Regelung bringe zwar „unvermeidliche Härte“ mit sich, verstoße aber nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz. Bei komplexen Reformen dürfe der Gesetzgeber schrittweise vorgehen und zudem die jeweilige Haushaltslage und die finanzielle Situation der Rentenversicherung berücksichtigen.

Das höchste Gericht betonte dennoch, angesichts der bestandssichernden Bedeutung der Kindererziehung für das System der Altersversorgung sei der Gesetzgeber verpflichtet, den Mangel des Rentenversicherungssystems, der in den durch Erziehungsarbeit bedingten Nachteilen bei der Altersversorgung liege, in weiterem Umfang als bisher auszugleichen.

In dem Karlsruher Urteil heißt es abschließend: „Obwohl die Verfassungsbeschwerden zurückzuweisen waren, haben die Beschwerdeführerinnen erreicht, daß der Gesetzgeber dem Lebenssachverhalt Kindererziehung in der gesetzlichen Rentenversicherung künftig in weitergehendem Maße Rechnung tragen muß.“

Der Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Berhard Worms (CDU), meinte, dieses Urteil werde „beträchtliche finanzielle Folgen“ haben. Das Bundesverfassungsgericht habe deutlich gemacht, daß der gesellschaftliche Wandel mehr als bisher berücksichtigt werden müsse.

Die Berliner Sozialsenatorin Ingrid Stahmer lobte das Urteil als einen „umsichtigen und mutigen Schritt gegen die Verarmung von Frauen“. Altersarmut träfe gerade Mütter besonders stark. Eine Untersuchung des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung ergab, daß 34 Prozent aller Frauen im Rentenalter weniger als 300 Mark monatlich erhielten. Bei den Männern lag keine einzige Rente so niedrig. Außerdem verwies Ingrid Stahmer darauf, daß für Geburten ab 1992 mittlerweile drei Jahre Erziehungszeit bei der Rente angerechnet würden.

Die Bewertung der Erziehungsarbeit erfolgt auf der Grundlage von 75 Prozent des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten und lag 1990 bei rund 28,80 Mark monatlich. Da die Mindestversicherungszeit für eine eigene Altersrente seit 1984 fünf Jahre beträgt, könnte eine Frau, die vor 1992 ihre Kinder zur Welt brachte, durch die Erziehung von fünf Kindern ohne eigene Beitragszahlungen Anspruch auf eine Rente erwerben. Diese läge dann monatlich bei etwa 150 Mark. flo

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