: Bonbonbunte Innenwelten
■ Das Walser-Ensemble zeigt »Liebe Frau Mermet«
Ein Dichter, so will es das Klischee, hat immer seine Muse. Weit oben soll sie thronen, unerreichbar und unantastbar, eine weiße Fläche für poetische Projektionen. Doch so fleischlos sind Künstlernaturen nur im Lesebuch. James Joyce' Briefe an Nora Barnacle strotzen von wüsten sexuellen Phantasien, Kafka geht seiner Freundin Felice Bauer schriftlich an die Wäsche, und Robert Walser äußert, nachdem er sich artig für ein Schinkenpaket bedankt hat, daß ihm das liebste von allem Fleisch doch ungekochtes Frauenfleisch sei. Frieda Mermet heißt seine Angebetete, und eine einfache Wäscherin in einem Schweizer Bergkaff ist sie.
Beim Walser-Ensemble, das die Briefe an die »Liebe Frau Mermet« auf die Bühne bringt, hockt die Holde tatsächlich im Dichterolymp. Ein goldener Bilderrahmen, ganz Gelsenkirchener Barock, schwebt über der Szene. Darin liegt sie in lasziver Pose auf einem Diwan hingegossen, mit hochgeschnürter Dirndlbrust und die Haare zum Schneckenkranz verzurrt. Hinterm Stubenfenster reckt sich das Matterhorn gen Himmel. Vor dieser drallen Bergikone, die schnell in ihrem Bilder-Boudoir zum Leben erwacht, agiert der Briefeschreiber. Drei befederte Stühle nebst Tischen skizzieren seine Welt. Sie sind entweder zu groß oder zu klein — ein Kinderstuhl neben einem Riesentisch. Nichts paßt zusammen, weder die Möbel noch die Worte.
Der Dichter bedankt sich für die Zusendung seiner Strümpfe, die er ihr zum Ausbessern geschickt hat, und für irgendwelche »Päckli«. Immer wieder versichert er seiner weit entfernten Traumfrau, mit der er nur ein paarmal spazierengegangen ist, seine Wertschätzung und Anhänglichkeit. Gleichzeitig ist diese gedrechselte Devotheit voll böse untergründiger Ironie. Als Braut in Weiß beschreibt er sie sich und dann wieder als Domina, deren »Magd« er sein will, behandelt wie ein Hund. Sexuelle Obsessionen, eingepackt zwischen Danksagungen für Käse und Tee.
Um fein ziselierte psychologische Rätseldeutung einer komplizierten Dichterseele geht es hier trotzdem nicht. Jürgen Wink spielt den Dichter voll ironischer Distanz. Wie ein Junge, der gerade Schreiben gerlernt hat, berauscht er sich an seinen Worten und jodelt auch schon mal mit seiner Bergbraut (Adreja Schneider) im Duett. Die ist ganz Almresli im Comicformat. Sie stickt und hängt Wäsche auf, ein matronenhaftes Abziehbild, das für jede Sehnsucht herhalten kann.
Unterstützt von einer Musik (Jan Schade), die augenzwinkernd zwischen Volkslied und Tom Waits herumdudelt, gelingt Regisseur Ulrich Simontowitz und seinem Text-Collageur Jürg Amann ein kleines Kunststück. Statt dröger Seelenschau destillieren sie aus Walsers alltäglichem, aber dennoch irritierend uneindeutigem Geschreibsel ein bonbonbuntes Liebesdrama mit wunderbar kitschigen Bildern. Das ist höchst vergnüglich und führt Walsers abgründige Innenwelten messerschärfer vor, als es jede Trauergrabung ins Gemüt könnte. Gerd Hartmann
Weitere Vorstellungen: heute, am 11. und 12.7., 21 Uhr im Ensemble-Theater am Südstern
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