: Für Frankreichs Gefängnisinsassen ist am 14. Juli Heiligabend: Regelmäßig wird gemeutert
Regelmäßig wird gemeutert
Paris (taz) —Weihnachten liegt für Frankreichs Knackis mitten im Juli, kurz vor dem Tag der Bastille-Erstürmung. Auch dieses Jahr war die Spannung groß: Wer wird wann beschenkt? Und wieviel wird ER geben? Kein imaginäres Christkind sorgt hier für die Bescherung, sondern der leibhaftige „Dieu“, der Souverän des Landes, Präsident Fran¿ois Mitterrand. Jetzt ist es raus, und in die Freude der Häftlinge mischt sich leichte Enttäuschung: Gott war heuer knausriger als im letzten Jahr. Er bescherte „einen Gnadenerlaß von zehn Tagen pro verbleibendem Haftmonat“, legte jedoch eine Obergrenze fest. Maximal sechs Monate. 1991 waren noch neun Monate drin. Doch „Dieus“ Ratschlüsse sind unergründlich.
Der Spannung folgt nun das große Rechnen: Denis wurde am 29. Mai zu sechs Monaten Knast verurteilt. Der Gnadenakt gilt seit Mittwoch. Macht viereinhalb Monate mal zehn Tage — Denis bekommt also 45 Tage geschenkt. Pech für seinen Zellengenossen, denn der hat Berufung eingelegt: Die Amnestie gilt nur für Strafen, die vor Mittwoch definitiv feststanden. Ausgeschlossen sind zudem alle Häftlinge, die wegen Terrorismus einsitzen, wegen Verbrechen an Minderjährigen, Lebenslängliche oder Knackis, die sich selbst die Freiheit nehmen wollten, die nur der Präsident schenken kann.
Bis zum Jahresende öffnet das Dekret mehreren tausend Gefangenen vorzeitig die Gittertore. Nur rund tausend Häftlinge packen schon jetzt ihre Habseligkeiten und dürfen vor dem Feiertag das Weite suchen. Das neue System verhindert Massenentlassungen, wie es sie in früheren Jahren zum Nationalfeiertag gegeben hat. Da es für die plötzlichen Freigänger viel zuwenig Sozialarbeiter gab, landeten viele von ihnen nur wenig später wieder hinter Gittern. In diesem Jahr erhielten die Zentren zur Aufnahme und Resozialisierung der Strafentlassenen Sonderkredite.
Ein Geschenk ist der Gnadenakt auch für die Knastdirektoren, die nicht mehr wissen, wie und wo sie ihre Knackis eigentlich noch unterbringen sollen. Frankreichs Haftanstalten sind nämlich total überfüllt. Zum 1. Juli saßen 54.811 Männer und Frauen hinter Gittern — das ist die höchste Zahl seit 44 Jahren. Vorgesehen sind jedoch nur 43.000 Gefangene. Die unzumutbaren Haftbedingungen führen regelmäßig zu Meutereien. Selbst das vor fünf Jahren gestartete Programm zum Bau von 25 teilweise privatisierten Strafanstalten war zu niedrig angesetzt; bei seinem Abschluß wird es insgesamt 50.000 Plätze geben. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Zahl der Häftlinge in Frankreich um 60 Prozent gestiegen. Während die kurzen Strafen kaum zunahmen, haben die Richter die langen Strafen verdoppelt. So stieg sowohl die Zahl derjenigen, die drei bis fünf Jahre einsitzen, als auch die der zu zehn bis zwanzig Jahren oder lebenslang verurteilten.
Hat die Kriminalität tatsächlich derart zugenommen, oder sind die Richter verurteilungsfreudiger geworden? Vor letzterem warnte kürzlich Justizminister Vauzelle: „Wir müssen uns bemühen, das Einsperren auf das strikte Minimum zu beschränken.“ Und der Minister malte das Schreckgespenst USA an die Wand. Bettina Kaps
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