Alle zusammen jetzt!

■ Familiäre Picknickstimmung beim »Genesis live«- Konzert am Sonntag auf dem Maifeld

Es hat am Nachmittag doch nicht mehr geregnet. Der Himmel über dem alten, mit Volkswagen-Fahnen bestandenen, Aufmarschfeld ist weit, licht und fast wolkenlos. Freundliche Ordner in uniformer Freizeitkleidung winken die aus dem Gehölz am U-Bahnhof Olympiastadion Tretenden durch die Absperrgitter und reißen die 65 DM teuren Billets ab. Hosen- und Kühltaschen werden nicht kontrolliert, und auch die mit 10 DM vor den Toren gehandelten Sitzschemel dürfen mitgenommen werden.

150 Meter vor der Bühne beginnt Fandom. Zwischen den seit vier Stunden ausharrenden, wiederholt »Yellow submarine« absingenden Berlinern gibt es kein Durchkommen. Schultheiss für 5 Mark und Sekt aus Plastegläsern lassen das Gefühl aufkommen, zu Gast beim Gartenfest entfernter, nicht ganz so lieber Bekannter zu sein. Pünktlich um acht werden die Videoclips auf der Großleinwand abgeschaltet. Als wenig später »All together now«, Sommerhit 1991, verklingt, sind wir alle eins — ich, der Kioskpächter aus der Maxstraße und der »Hecker«-Wirt. Alle zusammen jetzt, in niemand's Land. Die Nazi-Architektur scheint das Pathos anzuziehen.

Auf der Tribüne am Glockenturm, 300 Meter von der Bühne entfernt, wirkt der Beginn der Live- Show wie die Fortsetzung der Videoclips. Doch statt der spitting-image- Figuren aus »Land of confusion« grinst Herr Collins von der Leinwand, doppelt so groß wie die komplette Bühne. Der Ton kommt eine halbe Sekunde später als das frisch gefilmte Bild an. To many people have to many problems, strampelt sich der Jeansträger in Windeseile frei: »Hallo, Berlin« ruft er uns zu, und: »To you in the very back, hello.« Yeah!

Nach den Hits der aktuellen CD packen Genesis ihren Bauchladen voll Erinnerungen aus, bis jeder sein Stück gehört hat. Die ausladenden Instrumental-Soli, etwa bei »The lamb lies down on broadway«, sind unaufdringlich genug, um sich dabei zu unterhalten. Während der ruhigen Feuerzeugschwenkstücke geht der Mond auf.

Ein Ordner in Springerstiefeln versichert den Hostessen der VIP- Lounge, daß er jederzeit für sie da sei, wenn es Ärger gebe. Nur die mit Tabletts beladenen jungen Frauen vom Getränkestand, die, »Vorsicht, Bier!« brüllend, ihren Job verrichten, blicken unglücklich drein, während Phil Collins vorführt, wie man sich ausleben kann, wenn man erst einmal Weltmeister der Popmusik ist.

Als Fernsehprediger, Geistheiler und netter Jeanstyp um 45 weiß er die Menge zu erreichen und freundlich zu manipulieren, ohne aufdringlich zu sein: »Now it's public participation time.« Nach dem obligaten Shout und Response und Trommelsolo beschleunigt die Band um 22 Uhr noch einmal mit »I can't dance«. Zum gemeinsamen Rumsbums von Baßtrommel und Baß auf einem Beat schüttelt das Publikum mehrheitlich die Glieder. Der Sänger gewinnt dem drögen Blues mit Clownschau einiges an Lebendigkeit ab. Phil Collins mag lügen wie ein Videoclip, doch er tut es perfekt. So nah scheint der Star.

Mit dem Gefühl, den kleinen Mann in der Ferne tatsächlich noch heute abend beim Tanzengehen treffen zu können, gehen wir summend zum Süßwarenstand, um während der Heimfahrt etwas zum Knabbern zu haben. Stefan Gerhard