WAND UND BODEN: Das Interieur wird sichtbar
■ Kunst in Berlin jetzt: Andreas Seltzer, Dittmar Krüger, Wolf und Timo Kahlen, Christopher Hilary
Die »Endoskopie an Harnröhre und Blase«: das Plakat zeigt den Titel eines medizinischen Buchs von 1881, und in der Galerie ist das Gerät in seiner zeitgenössischen Form ausgestellt. Eine gewöhnliche Kleinbildkamera, deren Objektiv in einer rund zwanzig Zentimeter langen Nadel endet, deren geringe Öffnung offenbar Objektiv und Lichtquelle zugleich ist. Andreas Seltzer hat das Gerät zweckentfremdet und nochmals entdeckt, wie die Welt aussieht, wenn man ihr zu Leibe rückt. Nur auf seiner Einladungskarte verrät er, was zu sehen ist: »Im Nähkasten«. Die rissige weiße Form mit den blätternden schwarzen Buchstaben — man denkt an Schiff- und Luftfahrt — zeigt die endoskopische Binnensicht eines Maßbands. Auf anderen Bildern, immer die Fisheye-Perspektive im schwarzen Kreis, kommen einem Briefmarken wie Spielkarten entgegen, Puzzleteile wirken wie raumfüllende Preßspanstücke, und eine Büroklammer, in einer Manteltasche aufgespürt, erinnert an den geschwungenen Stahl eines Freischwingers. Für eine Designerklasse wäre diese Art der Fotografie gewiß ein inspirierender Zugriff auf die Gegenstandswelt. Besonders die rissige Typographie englischer und japanischer Schriftzüge ruft nach Verwandlung. Das Vergnügen an der Endoskopie in der Konfektschachtel ist allerdings auf das Moment des Erkennens reduziert. Die beharrliche Freude an der Idee ist es ja auch, was jene Nische fotografischer Kleinkunst ausmacht, die Seltzer mit seiner eigenen Galerie »Bilderdienst« besetzt hält; erstaunlicherweise in der besten Galeriengegend der Stadt.
Pariser Straße 51, Charlottenburg, Mo.-Fr. 16-19 Uhr, Sa. 10-14 Uhr
Der Ort nennt sich »Refugium«, und ist nichts so wenig wie das: ein greller Szene-Friseurladen fast am Stuttgarter Platz, mit Dauerbeschallung über weiß lackierte, schräg von der Decke hängende Boxen, Marmorfries-Schnickschnack über hohen Spiegeln und einem Brunnen mit kupfernem Fisch. Ein Künstler, der die Mitte einer weißen Wand als Ausstellungsfläche akzeptiert, muß schon gute Nerven haben und viel Vertrauen in die Eigendynamik seiner Produkte.
»Interieur I-X« nennt Dittmar Krüger eine Serie von zehn Kästen, die mit zehn Zentimeter Tiefe schon definitiv »Ding« sind (nicht mehr Relief) und mit ihrer quadratischen Abmessung von 27 mal 27 Zentimetern etwas kompakter sind als das Cover einer LP. Begonnen hat Krüger seine Serie mit gänzlich geschlossenen Holzobjekten; im letzten Jahr zeigte er in der Bergmannstraße 110 schwarze Kästen mit eigenartigen Öffnungen in der Frontfläche. Jetzt arbeitet er mit durchsichtigem, milchigem Kunststoff, und so wie seine Kästen mit ihrer vagen Position zwischen »Möbel« und »Gerät« schon immer Interieur waren, wird nun das Interieur der Kästen sichtbar: eine Art inneres Regalsystem von Unterteilungen und Einfügungen, ausgerichtet am rechten Winkel. Materialien sind, außer dem gelblichen Klebstoff, diverse Versatzstücke aus Handwerk und Industrie. In dem auf den ersten Blick anziehendsten Kasten (»X«) sind weiße Friseurwatte und anthrazithene Isolierwolle, in kleine Fächer gepfercht, zu Marmormustern geordnet, recht klar erkennbar an der vorderen Scheibe und in der Wiederholung an der Rückseite verschwimmend. Deutlicher als bei seinen Holzkästen im gleichen Format sieht man beim »Interieur«, daß Krüger, geboren 1958 in Stockholm, in den achtziger Jahren Schüler des Malers Johannes Geccelli war. Allein mit welcher Sicherheit er sein »Format« gefunden hat, ist bewundernswert. Jedoch, wer nicht kraftmeiert oder Angehöriger einer vermeintlichen Minderheit ist, hat es schwer in dieser Stadt, in der zwischen biederer Malerei und aufdringlicher »Konzeptkunst« noch immer wenig Platz ist, ein deutlicher Mangel an Sensibilität.
Windscheidstraße 20, Charlottenburg, bis zum 29. 8., geschäftstäglich ab 11 Uhr
Aus meiner Post: »Über den großen, im Rahmen der Gastprofessur von Wolf Kahlen am Bauhaus Dessau inszenierten Ausstellung »(über Zeit) am Bauhaus« der »Ruine der Künste Berlin« im Russischen Lazarett Dessau (Installationen von 9 Künstlern der Ruine der Künste Berlin in 40 Räumen des von einer Mauer umschlossenen Areals mit fünf Villen, einer Straßenkreuzung und einem Birkenwäldchen), die vom 3. Juni bis 25. Juli täglich von 11 bis 19 Uhr dort zu sehen ist, haben wir vergessen, zur Eröffnung der Ausstellung »Wolf Kahlen, Staub Installationen« einzuladen.«
Die Ausstellung mit Arbeiten von Kahlen in Kooperation mit seinem Sohn Timo sieht allerdings so aus, als hätten die Künstler nicht nur die Sache mit der Einladung nicht ganz ernst genommen. Ganz gleich, wo sie ihren Mörtelstaub präsentieren: auf dünnen Glasscheiben in einer weißen, auf dem Boden stehenden Vitrine; auf der Rückseite eines gigantischen, mit Nessel bespannten Keilrahmens; oder auf dem Holzfliesenboden des Hauses als Ergänzung einer stummen Videoinstallation: Es ist viel Platz zwischen Banalem und Spirituellem, und ziemlich genau in der Mitte scheinen sich die Kahlens eingerichtet zu haben. Was sie produzieren, ist weder genialisch lapidar (was es vielleicht sein soll) noch im geringsten auratisch (was es im Kontext des Künstler-Themas »Zeit« vielleicht sein müßte), und hält nicht im geringsten Stand gegen die betörende Atmosphäre des Dahlemer Hauses, das Kahlen vor mehr als zehn Jahren erworben und mit viel Feingefühl als eine Art privaten Kunstverein hergerichtet hat.
Natürlich kann es ihm niemand verwehren, sich im eigenen Haus als Künstler selbst einzuladen; aber nicht nur in dieser Schwachstelle des Programms verdichtet sich der Eindruck, daß Kahlen nicht schlecht beraten wäre, ließe er sich mal beraten. Auf ungünstigste Weise vermischen sich in seiner organisatorischen Arbeit Ehrgeiz und Esoterik, Kunst und Ressentiment gegen den Kunstbetrieb. Auch die »Unikatkataloge«, die er jetzt anbietet, verstärken den Eindruck, daß die Vermischung der Künstler- und Macherrolle auf Dauer kein Gewinn ist: ausrangierte russische Bücher der Nationalbibliothek Riga hat Kahlen angereichert mit »gedruckten Texten, Photos und Zeichnungen, die wie Lesezettel eingelegt sind«. Faktisch sind es schmale Kunstdruck-Fahnen, die für die Arbeiten von Wolf und Timo Kahlen auf artigste Weise Reklame machen; pro Buch mit Einlagen 45 Mark.
Ruine der Künste, Hittorfstraße 5, Grunewald, bis zum 2. August täglich 14-18 Uhr
Fast hätte ich vergessen, daß es so etwas einmal gab: kleinformatige Fantasy-Malerei, deren Hersteller sich an technoiden Farbverläufen aufs höchste erfreuen konnten. Das versunkene Hippie-Gepinsel eines privaten Universums, ohne Referenz und Maß, meilenweit hinterher selbst dem, was einer sich tatsächlich im Traum ausmalt. Christopher Hilary, 1926 bis 1979, war so einer. Das Polnische Kulturinstitut Berlin hat ihn wiederentdeckt und zeigt ihn im Parterre der Karl-Liebknecht-Straße 7, einem jener trostlosen Räume mit riesigen Fensterfassaden und massiven weißen Säulen; die längste Hängefläche ist die Rückwand aus rauhem Stein, die bei sechs oder sieben Metern Abstand aussieht wie Preßspan. Das eigentümliche an dieser Ausstellung ist, daß zwei Sachen, die als »vorbei« gelten dürfen, hier wie selbstverständlich zusammenkommen: die interesselose Kulturtristesse der sozialistischen Fünfziger und eine bestimmte Art regressiven Künstlertums, das im Westen vor kaum zwanzig Jahren gar nicht so selten war. Tatsächlich verbrachte Hilary, dessen Mutter in Auschwitz starb und dessen Vater in Argentinien verschwunden war, seine letzten Jahre in Deutschland und in den USA. Das Siebziger-Jahre-Plakat einer Hilary-Ausstellung in Amerika, das an der Kasse angeboten wird, ist sozialgeschichtlich ein Dokument.
Bis zum 30. August, Mo.-Fr. 10-18 Uhr Ulf Erdmann Ziegler
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