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„Orientieren“ heißt „Im Osten Licht suchen“

Die Westdeutschen brauchen die Ost-Partei ebenso dringend wie die Ostdeutschen. Je mehr man versucht herauszufinden, warum die großen Probleme unserer Zeit nicht gelöst werden — Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, Arbeitslosigkeit, öffentliche Verschuldung, Wohnungsnot, Hunger in der „dritten Welt“ —, um so deutlicher sieht man, die herkömmliche repräsentative Parteiendemokratie ist veraltet. Sie wurde von der industriellen Produktivität überholt. Sie beschränkt die Zahl derer, die in den Industriegesellschaften entscheiden, während die Arbeitsergiebigkeit gesteigert wird. Die Produktivität einer Gesellschaft und die Zahl ihrer Entscheider stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Wenn die Zahl der Entscheider nicht mit der Arbeitsergiebigkeit steigt, häufen sich Fehlentscheidungen zum Nachteil der Allgemeinheit. Anders gesagt: Arbeit wird gefährlicher für alle. Während die Leistung jedes Arbeitenden weiter steigt, wird die Zahl der Entscheider in unseren Industriegesellschaften fortwährend verringert durch Konzernbildung und Fusionen von Konzernen. Es entstehen absolutistische Verhältnisse wie in der Zeit vor der Französischen Revolution. Man ahnt, in welcher destruktiven Ohnmacht wir schon leben, wenn man bedenkt, was wir alles nicht erfahren von dem, was sieben Männer miteinander in München über unsere Zukunft besprochen haben.

Das bedeutet, es wird für mehr und mehr Menschen hier und anderswo lebensgefährlich, wenn wir die Parteiendemokratie nicht weiterentwickeln. Die Klage der herrschenden Kaste in Produktion, Parteien und Medien über die Gründung einer Ost-Partei beweisen, daß sie Neuerungen fürchten. Was die alte Kaste fürchtet, sollte uns eine Orientierungshilfe sein. Wenn eine Kaste etwas fürchtet, ist es immer Machtverlust. Machtverlust für die Kaste bedeutet Machtgewinn für eine größere Zahl von Bürgern. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß die Bildung einer parteienübergreifenden Bewegung in Ostdeutschland einen Akt politischer Kreativität darstellt, dann ist es die einheitliche gereizte Reaktion aller Medien und der Gremien aller etablierten Parteien. Jeder Bürger, der der Kaste nicht angehört, muß sich über die Initiative in Ostdeutschland freuen. Nach allem, was man hört, soll es keine politische Partei im westlich- herkömmlichen Sinn sein, was da zu entstehen im Begriff ist. Das könnte eine Hoffnung begründen für die Mehrheit der Deutschen, daß unsere Demokratie zu neuen Formen findet, die besser zur höheren Arbeitsergiebigkeit passen. Das könnte eine Hoffnung begründen für die Bürger unserer Nachbarstaaten.

Die privilegierte Kaste hat es schon immer verstanden, eine bleierne Decke von Denkkonventionen über das Allgemeinhirn zu ziehen. Schöpferische Potenzen wie die Initiatoren der Bürgerbewegung in der DDR lassen hoffen, daß die Veranstalter des Rennens nach Geld und Macht uns — und sich selbst — doch nicht so schnell umbringen, wie es jetzt aussieht. Voraussetzung allerdings ist, daß die bürgerliche Gesellschaft noch Zeitungen und Sender hervorzubringen vermag, die solche kreativen Geister öffentlich sprechen lassen, damit die Mehrheit lesend und hörend erkennt, was ihre Interessen sind. Dann wird sich auch die Erkenntnis durchsetzen, daß es keine Demokratie gibt ohne Demokratie in der Produktion. E.A.Rauter, Neuried

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