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Neue Kreationen auf dem Mittagstisch

Kulinarische Künste auf dem Opfertisch der Gentechnologie/ Novel Food muß laut EG-Gesetzesvorschlag nicht gekennzeichnet werden/ Wirkung auf Gesundheit und Umwelt unbekannt  ■ Aus Brüssel Michael Bullard

„Hier kocht der Chef — mit reinen Lebensmitteln.“ Über hundert Feinschmeckerrestaurants in New York werben inzwischen damit, daß sie keine gentechnisch manipulierten Lebensmittel verwenden. Angeführt wird die Boykott-Aktion von Meistern der Zunft wie Michael Lomonaco vom „Club21“ oder Jacques Pepin. Sie sind um die Gesundheit ihrer Kunden besorgt, denn „gentechnisch hergestellte Lebensmittel wie Gemüse, Fisch und Fleisch können giftig sein oder Allergien hervorrufen“. Dafür, so die Chefköche, sollten „wir keinesfalls die Geschichte und Integrität unsere kulinarischen Künste opfern“.

Besonders verärgert sind sie, daß gentechnisch hergestellte Lebensmittel nicht gekennzeichnet werden müssen. Dies erschwere es ungemein, reine Lebensmittel anzubieten — ein Dilemma, vor dem auch Köche und Konsumenten in Europa stehen. Denn der letzte Woche von der EG- Kommission in Brüssel nach langem Zögern schließlich vorgelegte Gesetzesvorschlag zu Novel Food (siehe taz vom 15.5. 1992) folgt dem US-amerikanischen Vorbild: Eine Kennzeichnung ist nur in Ausnahmefällen vorgesehen. Grund genug für die Grünen im Europaparlament, jetzt auch die europäischen Küchenchefs zum Boykott zu animieren.

Die große Palette der neuen Produkte läßt sich grob einteilen in Nahrungsmittel wie Obst, Gemüse oder Fisch, die selbst gentechnisch verändert wurden, Nahrungsmittel wie Milchprodukte, die aktive transgene Organismen enthalten, Nahrungsmittel wie Brot oder Bier, die inaktive transgene Organismen enthalten sowie gentechnisch produzierte Zutaten wie Enzyme. Novel Food, das sind also gentechnisch veränderte Hefebakterien ebenso wie mit Skorpion-Genen in Pestizide verwandelte Tomaten oder Kartoffeln. Weil aber noch nicht genau bekannt ist, was die neuen Kreationen mit der Darmflora oder später mit der Umwelt anstellen, sollen Produktion und Vermarktung kontrolliert werden.

Dabei liegt den Eurokraten allerdings weniger das Wohl der Konsumenten am Herzen, als die Konkurrenzfähigkeit der europäischen Gentech- und Lebensmittelindustrie. Mit ihrer Gesetzesinitiative wollen sie einzelstaatlichen Regelungen zuvorkommen, die die Wachstumsbranche im kommenden Binnenmarkt behindern könnte. Während Novel Food in Deutschland vermutlich noch nicht auf dem Markt ist, wird es in anderen EG-Ländern wie Großbritannien zum Teil schon vertrieben. Unklar ist allerdings, ob nicht in die Bundesrepublik eingeführte Vitamine, Süßstoffe oder Enzyme bereits aus der Retorte kommen. Die (ausländischen) Produzenten von Novel Food machen sich dabei eine Gesetzeslücke zunutze, die zwischen dem Gentechnikgesetz, das keine Lebensmittel kennt, und dem Lebensmittelrecht, bei dem die Gentechnik keine Rolle spielt, klafft.

Um hier EG-weit Klarheit zu schaffen, soll die Verordnung rechtzeitig zum Beginn des Binnenmarktes am 1.Januar 1993 in Kraft treten. Die Gesetzesform der Verordnung wurde von der Kommission statt der in solchen Fällen üblichen EG-Richtlinie gewählt, weil letztere von den Parlamenten der Mitgliedstaaten in nationales Gesetz umgesetzt werden müßte und so nicht nur Raum für unterschiedliche Auslegungen gebe — in diesem Fall würde sich der Gesetzgebungsprozeß auch wesentlich länger hinziehen. Die Verordnung ist dagegen unmittelbar nach ihrer Verabschiedung durch den Ministerrat EG-weit geltendes Recht.

Ob dieser allerdings rechtzeitig entscheiden kann, ist fraglich, weil zuvor noch das Europaparlament in zwei Lesungen Ergänzungen vorschlagen kann. Beobachter gehen deshalb davon aus, daß ein endgültiger Beschluß frühestens nächstes Frühjahr feststeht — wenn der Ministerrat nicht noch der vor allem von der dänischen Regierung eingebrachten Forderung folgt und die Rechtsgrundlage ändert. Auf diese Weise würde die Verordnung in eine Richtlinie umgewandelt. Dagegen wehrt sich besonders das für Novel Food zuständige Bundesgesundheitsministerium. Dort ist man zwar für eine stärker ausgeprägte Kennzeichnungspflicht, eine Beteiligung von Bundestag und Bundesrat am Gesetzgebungsprozeß zu den neuen Lebensmitteln will man jedoch vermeiden.

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