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...brumm, brumm, brumm...

Auf Deutschlands Straßen herrscht Kleinkrieg — zwischen Autofahrern und Muskelkraftbewegten  ■ VON MICHAEL KAHN

Kai Lehmann* hatte gelernt, auf den Verkehr in Hamburg zu achten: die Ampeln nur bei Grün, nicht zu nah am Bordstein, nicht plötzlich rennen. Von da nach dort, und dazwischen der Verkehr, die Gefahr. Die Verkehrserziehung aber, die dem zehn Jahre alten Grundschüler erteilt wurde, schwieg von einem Beziehungsgeflecht: dem zwischen Fußgängern und Autos, Menschen und Maschinen.

Der Junge hatte seinen eigenen Weg gefunden zum Verkehr. Er studierte die Sonntagswagen der Mittelklasse, notierte Höchstgeschwindigkeiten und die Farben der Karosserien. Wie viele dunkelgrüne Mercedes, orangefarbene Wartburgs, weinrote Fließhecks lassen sich an einem Morgen zählen? Es war die goldene Zeit der Autoquartette. Eine ganze Generation hat das Auto nach den Kategorien dieser bunten Spielkarten verinnerlicht.

Doch neben dieser ersten Erkenntnis gedieh bei Kai im verborgenen die Sehnsucht nach einer Beteiligung an diesem Verkehr, die kein Autoquartett stillen konnte. Der Gegenstand auf vier Rädern war geschlossen: Fenster zu, Tür verriegelt. An dieser Grenze versuchte sein Wissen zu kratzen. Es war der Versuch, mit einem Gerät eine Beziehung aufzunehmen. Das Auto, in dem der Fahrer die Beziehung zwischen zwei Orten herstellt, bewegt sich nur vor dem Hintergrund einer negierten Beziehung: dem leeren Blick, den der Fußgänger auf die bewegte Karosserie wirft.

Der Bordstein ist die deutlichste Form dieser Grenze zwischen denen im Auto und dem Fußgänger. Er teilt den Verkehr auf derselben Straße in zwei Ordnungen, die durch die Ampel nur deshalb vermittelt werden können, weil sie den Fußgänger als Verkehrsteilnehmer, als unvollständiges Auto anspricht. Die Grenze, die der Bordstein zieht, machte die Fahrt zur Arbeit und zur Tante, zu Freunden und in den Urlaub erst möglich. Kai suchte systematisch nach den Schwachstellen dieser Grenze. Er suchte ein Lächeln, ein kleines Geschenk vielleicht. Die Bonbons, die die Karnevalsprinzessin von ihrem dekorierten Wagen warf, der von einem Traktor gezogen wurde, vergaß Kai nie.

Ein Auto mit einem fremden Nummernschild fährt langsam, ziellos. Ob er nach dem Weg fragen will? Näher ran. Sie schauen nach Straßennamen. Der Junge hält sich begierig als Auskunftsperson bereit. Gefragt werden und die Unwissenheit der Autofahrer beheben wollen. Sie suchen eine Straße? Immer geradeaus, dann rechts, dann die zweite links. Dankeschön. Niemand, fast niemand hat ihn gefragt, als er sich orientierungslose Autofahrer herbeisehnte, um die negierte Beziehung zwischen Auto und Fußgänger in eine gelebte Beziehung zu verwandeln. Aber das Vorhaben war so absurd wie die automobile Gesellschaft selbst. Es war kindisch.

Noch nie hat ein Passant einen Autofahrer nach dem Weg gefragt

Fünfzehn Jahre später. Ein sonniger Sonntag nachmittag in einer deutschen Kleinstadt. Spaziergänger auf dem Weg durch die Stadt, zum Park. Jemand schreit in das brummende Stinken der Autos: „Stehen Sie gefälligst auf, wenn Sie mit mir reden!“ Der Autofahrer, der eine Auskunft wollte, fährt verdutzt weiter. Er fühlt, wie ihn eine Mauer von dem Fußgänger trennt — eine, die er sich selbst gekauft hat. Eben jene, die die Basis des Autoverkehrs ist, die aber bisher weder die Autofahrer noch die Fußgänger recht sehen konnten.

Der Verkehrsteilnehmer ohne Blechkarosserie, der sich aus eigener Energie bewegt, erkennt in dem elektrisch heruntergelassenen Fenster des Autos nur noch den Befehl zum Stehenbleiben, zum Verbeugen, sieht im Auto selbst nur noch ein gefährliches Projektil, ein Mordinstrument. Die einen stehen, die anderen sitzen. Daß ein Sitzender einen Stehenden anredet, ist nur vom Rollstuhl aus und im Restaurant erlaubt. Auf der Straße erniedrigt diese Anrede den Fußgänger zur Bedienung. Das ist die Arroganz, zu der die Automaschine ihre Benutzer zwingt. Hat jemals ein Fußgänger einen Autofahrer nach dem Weg gefragt?

Wie lange werden sich noch die Fußgänger vor diesem Gerät verbeugen, das ihnen Tod und Verstümmelung beschert? Wie viele sind verstümmelt und überfahren worden, während sie dem Hilfsbegehren eines verirrten Autofahrers nachkamen?

In Berlin eröffnet demnächst ein Fahrradgeschäft, das seinen Kunden für die Auseinandersetzung mit dem Auto neue Hilfsmittel an die Hand gibt. Es bietet mehr als Sturzhelme, ausklappbare Abstandhalter, Höhenwimpel, Trillerpfeifen und Lkw- Hupen für das Fahrrad. Hier gibt es jene verborgen am Rahmen befestigten Spritzen, die einen schmierigen Ölfilm auf jede Windschutzscheibe legen, und Lackkratzer in Kniehöhe mit Industriediamanten.

Dort, wo Benzinverkehr und Muskelkraftverkehr sich treffen, ist die Stimmung sehr aggressiv geworden. Die Kampagne des Bundesverkehrsministeriums, die um einen Meter Abstand zwischen Auto und Fahrrad wirbt, registriert das, aber schweigt sich über die Ursachen aus. Die Zerstörungen, die nachts auf den Parkplätzen angerichtet werden, zielen nicht mehr auf das pubertäre Einsammeln von Mercedes-Sternen, sondern meinen generell den Verkehr der Automobilen. Die Gesten des nicht motorisierten Verkehrs werden schriller. Ohne das geringste Mitleid für die Parkraumnot, ohne einen Gedanken an die Hitze im eisernen Gerät signalisieren die Blicke der Fußgänger den Autos jetzt immer öfter: Hau ab! Hunderttausend tote Fußgänger später verlangen sie, das Auto solle sich in Luft auflösen. In jene Luft, die es verpestet, die es mit Lärm füllt. Dem Auto fehlt jetzt die Bewunderung des Muskelkraftverkehrs, die es früher erntete. Lärmschutzmauern verstecken es, auf den Autobahnen stehen nur noch Autos mit Autos in einer Beziehung. Hier spricht kein Mensch mehr, nur noch die Stimme des Verkehrsfunks. Es gibt keine Zuschauer mehr auf den Autobahnbrücken, nur noch mordende Steinewerfer. Aber wie lange kann das Auto ohne die Sympathie der Fußgänger existieren? Wer kann durch solche bösen Blicke fahren, ohne zu erschrecken?

Die neue Aggressivität im Verkehr liegt nicht nur in den ausholenden Schlenkern der Fußgänger und der Fahrradfahrer, die plötzlich in der Mitte der Straße reklamieren und im Autofahrer nur noch den Gaspedalmörder sehen. Sie war bereits ablesbar an der Physiognomie der Fahrzeuge selbst, seitdem die gespaltenen Windschutzscheiben der frühen Volkswagen ersetzt wurden, die die Augen ihrer Fahrer nachahmten. Heute beherrschen die unmenschliche Raketengrimasse des neuen Mercedes und der martialische Ausdruck eines BMW das Gesicht der Straße und inspirieren die Phantasie zu jener zwei Meter dicken Betonmauer, an der diese Geschosse zerschellen würden. Die Italiener spielen auf den kriegerischen Charakter des Verkehrs historisierend an: Sie nennen die stärkeren Autos aus Turin Lancia, also Lanze.

Koblenz. Ein großer öffentlicher Arbeitgeber plant, auf dem firmeneigenen Parkplatz Gebühren zu erheben. Die Einnahmen sollen ein Bussystem finanzieren. Der Betriebsrat erhebt Widerspruch. Die Gewerkschaft spricht von „sozialen Härten“ für jene, die auf das Auto angewiesen sind. Als Antwort lädt der Arbeitgeber zu einer Exkursion in einen Vorort ein. Besichtigt wird ein Autofriedhof. Hier sehen sie die sozialen Härten des Autos, sagt der Umweltschutzbeauftragte der Firma. Der Regen hat das Blut derjenigen weggewaschen, die ohne Gurt, ohne Knautschzone und ohne Airbag am Verkehr teilnahmen.

Der Dialog zwischen dem Auto und dem Muskelkraftverkehr ist im Zeitalter des Umweltschutzes einem tiefen, wechselseitigen Unverständnis gewichen. Läufer und Radler haben damit begonnen, im Auto keinen Menschen mehr zu sehen, sondern nur noch eine anonyme Waffe. Sie lesen den Verkehr als Krieg und handeln entsprechend. Sie vergessen den Fahrer, seine Bedürfnisse und sehen nur noch Metall, Lärm, Gestank, Kreidemarkierungen und Sägemehl aus Asphalt, das das Öl aufsaugt und das Blut verdeckt. Diese Maschinenstürmer bestehen darauf, daß die Einheit von Mensch und Maschine im Falle des Autos ganz auf der Seite der Maschine zum Stehen kommt. Der Fahrer bedient nur noch eine Maschine, deren mechanische Tendenz es ist, Fußgänger und Radfahrer zu töten. Durch diese Auffassung wird der Verkehr, der Verbindungen herzustellen versprach, zu einer Zone offener Auseinandersetzung. Die ministerialen Aufrufe zu Gemeinsamkeit und gegenseitiger Rücksichtnahme können diesen massiven Dissens vielleicht verbergen, bleiben aber seinen Wurzeln fern. Diese liegen eher in der Natur der Kommunikation als in dem guten ökologischen Gewissen und dem gesunden Sicherheitsbedürfnis des Muskelkraftverkehrs.

Menschen verinnerlichen den Verkehr — und laufen wie Autos

Kommunikation ist nicht nur eine Beziehung zwischen Sender und Empfänger oder Anfang und Ende einer Reise. Jede Art von Kommunikation steht zugleich in einer negativen Beziehung zu einem anderen Medium, das sie umgibt. Die Fachsprache schließt die Umgangssprache aus, der Film ist die Negation des Theaters, das Telefon die des Handschlags, der Druck negiert die Handschrift und die Fotokopie. Genau diese spannungsgeladene wechselseitige Ausschließung der Medien wiederholt sich im Verkehr. Seit der Abschaffung der Bürgersteige in den verkehrsberuhigten Zonen müssen beide Gruppen eine Lösung dafür finden, wie sie den öffentlichen Raum nun untereinander aufteilen. Weil aber die Autos nicht zu Fußgängern werden, verwandeln sich militante Fußgänger in Autos. Und mittlerweile gehen sie so, wie die Autos fahren: beim Überholen nach hinten schauen und nach rechts den Fahrradblick. Die unzähligen Beinahzusammenstöße zwischen englischen und kontinentalen Fußgängern auf den Londoner Flughäfen illustrieren, daß der Fußgängerverkehr die automobile Regel des Rechts- und Linksverkehrs bereits vollständig verinnerlicht hat. Das ist peinlich und lächerlich, denn in diesen Momenten geben sich die Fußgänger als Autos, als Maschinen zu erkennen. Es zeigt auch die Absurdität des Kleinkriegs gegen die Autos. Der Muskelkraftverkehr adoptiert die Sprache des Autos, um sich gegen diese zur Wehr zu setzen.

Es ist nicht nur die blutige Schadensbilanz des Verkehrs, die einen tiefen Graben zu dem Muskelkraftverkehr aufgerissen hat. Es ist grundsätzlicher die Differenz zweier Medien, über die sich nur Kinder hinwegsetzen können. Entweder indem sie die niedrige Kopfhöhe des Autofahrers als Gesprächsangebot auffassen oder indem sie sich selbst spielerisch in ein Auto verwandeln: brumm, brumm, brumm. Den Kindern gleich begibt sich die militante Avantgarde der Fußgänger in die Zone der automobilen Kommunikation und übernimmt ihre aggressive Gestik. Es ist nicht der Mangel an Gemeinsamkeit, der den Konflikt in den Fußgängerzonen verursacht, sondern ihr Übermaß.

Doch wie anders sollten sich die Fußgänger verständlich machen? Sie müssen das aggressive Ausdrucksrepertoire der Autos annehmen, weil ihr eigenes — Blickkontakt oder Körperbewegung, Schrittrichtung oder Hüsteln — aus dem Inneren der Blechmaschine nicht wahrgenommen werden kann.

Vor drei Wochen starb Kai Lehmann auf dem Weg zum Unterricht. Ein Autofahrer hatte ihn übersehen.

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