: NICHTS IST, WIE ES NIE WAR
■ Albanien - kein Reiseland
Albanien —
kein Reiseland
VONMARTINUNFRIED
An der Grenze
Ein großes Eisentor. Dahinter stehen Männer, halten sich am Gitter fest und starren uns an. Wie Bettler sehen die Albaner aus in dieser unwürdigen Situation mit ihrer abgetragenen Kleidung, ähnlich den Flüchtlingen, die vor einem Jahr in Bari auf den Schiffen standen. Endlich sperrt der griechische Zöllner das schwere Tor auf, wir sind drin, und endlich schrumpfen die Bari-Bilder im Kopf. Hier in Kakavia steht auf albanischer Seite ein modernes, pompöses Gebäude mit verspiegeltem Glas, ein kleiner Palast der Republik. In einem völlig verdreckten Raum starrt ein unrasierter Zöllner apathisch in unsere Pässe. Kiffen die Jungs zuviel? Oder ist es — eine psychoanalytische Kurzdiagnose — die Ratlosigkeit über eine nicht zur Vergangenheit passende Gegenwart, die sich in seinen leeren, traurigen Augen widerspiegelt? Auch seine Kollegen wirken reichlich abgeschlafft, hängen stumm in zerschlissenen Polstersesseln und rauchen. Die Szene wirkt erheiternd: Drei ältere Amerikaner mit Baseballmützen sitzen aufgeregt da und warten auf ein Taxi. Glücklicherweise befindet sich in meinem Paß ein Visum der albanischen Botschaft in Bonn: Ich bin erst die Nummer 314, was immer das heißen soll. Sorgfältig hat jemand mit Kugelschreiber das popullore socialiste durchgestrichen. Enver adieu, albanischer Weg gestorben! Albanien ist ein „freies Land“, spätestens seit die Demokraten Anfang des Jahres die Wahlen gewonnen haben. Jetzt genügt eine Einladung oder ein journalistisches Anliegen, und ich darf betreten, was fünfundvierzig Jahre für Imperialisten wie mich konsequent abgeschottet war und geheimnisvoll im Verborgenen blieb. Die neue Offenheit gilt natürlich auch für die vielen AlbanerInnen, die hier tagelang an der Grenze campieren. Sie dürfen jetzt ausreisen. Nur mit der weiterführenden Einreise haben sie Probleme.
Unterwegs
Wir sind zu viert, drei Männer, eine Frau, und fahren nach Tirana mit einem alten, klapprigen Passat. Die Hauptverbindungsstraßen sind gar nicht so schlecht wie gedacht, links und rechts türmt sich eine karge Gebirgslandschaft, die Ausläufer des Epirosgebirges. Schon nach wenigen Kilometern in einem Dorf die erste Kontrolle. Ein Polizist hält uns an, und zwei Typen in Zivil behaupten, sie seien vom Finanzamt. Sie tragen verspiegelte Brillen und wollen achtzig Dollar, weil mit unseren Papieren was nicht stimme. Wir zucken mit den Schultern und verstehen überhaupt nichts. Der Polizist steht verlegen dabei, als ob er so etwas noch nicht so oft gemacht hat. Seine Uniform sieht aus, als gehöre sie zum Fundus der Augsburger Puppenkiste. Wir kommen ins Gespräch. „Matthäus“, sagt er und lacht. „Klinsmann“, entgegne ich und grinse, worauf er mir freundschaftlich über die Haare streicht. Ich: „Brehme!“, er: „Beckenbauer!“ Das entspannt die Situation, und am Ende zahlen wir zehn Dollar und nichts für ungut. Bei den zahlreichen Kontrollen, die dieser ersten folgen, ist der Dolmetscher Astrit Ipro dabei und bewahrt uns vor Bußgeld. Er glaubt, dies sei ein verzweifelter Versuch der neuen demokratischen Regierung, die vielen finsteren Burschen zu erwischen, die sich während der anarchischen Umbruchzeit bewaffnet haben. Ich weiß trotzdem nicht, ob ich mich von den Uniformen beschützt oder bedroht fühlen soll.
Ist es hier gefährlich? Astrit würde AusländerInnen zur Zeit nicht unbedingt empfehlen, auf eigene Faust durchs Land zu reisen. Ab und zu lachen wir über die verspiegelten Brillen und die demolierten Asconas der neureichen Privatwagenbesitzer. Die tragen Cowboystiefel, die hören „Winds of change“ von den Scorpions, die schmeißen im Restaurant mit Gläsern um sich und fahren bei Nacht ohne Licht! Die wirken zwar reichlich unsympathisch, sind aber aus Fleisch und Blut. Es gibt dagegen ganz harmlose Situationen, die dadurch unheimlich werden, weil irgendwo etwas Unsichtbares zu lauern scheint. Beispielsweise in der Dämmerung, wenn die Berge zwischen Elbasan und Tirana in aufregendem Licht in unzählige Grautöne zerlegt sind; oder in der Gegend von Berat, wo auf den Hügeln verlassene, schwarz verschmierte Bohrtürme stehen und an einigen Stellen das Öl den Berg hinunterläuft und unten in einen braunen See mündet; oder vor den Absperrungen des Hafens von Durres, wo albanische Soldaten mit Maschinengewehren potentielle Flüchtlinge von den Schiffen fernhalten und Schieber ihren Geschäften nachgehen.
Die Bunker
Bei strahlendem Sonnenschein stehen wir oben auf einem Paß, unten liegt sattblau der Ochridsee eingerahmt von Bergen. „Fast wie in Österreich“, denke ich, denn der Reisende kommt ohne Vergleiche nicht aus. Die Idylle ist spätestens dann zerstört, wenn man der Bunker ansichtig wird, die statt friedlicher Segelboote am Ufer aufgereiht sind. Hier im Grenzgebiet wurde nicht gesegelt, denn auf Fluchtversuch stand noch vor wenigen Jahren die Todesstrafe. Tretminen statt Tretboote. Wie der Staat am anderen Ufer heißt, ist noch nicht entschieden, vielleicht Makedonien. Früher jedenfalls lag da drüben Jugoslawien, der erste Hauptfeind des Regimes, seit Tito in den fünfziger Jahren versuchte, Albanien zu einer jugoslawischen Provinz zu machen. Später mutierte dann die Sowjetunion und Anfang der achtziger Jahre auch noch China vom Verbündeten zum Feind und Verräter des wahren Pfades. Drei Millionen gegen den Rest der Welt. Die albanische Landschaft erzählt von dieser universellen Bedrohung: überall Bunker! Im Vorbeifahren versuche ich, ein Feld zu entdecken, auf dem keine halbierte Betonkugel aus dem Boden wächst. Es gelingt nicht. Überall steinerne Zweimann- Iglus! Häufig stehen dreißig, vierzig in einer Reihe. Große Verteidigungsringe umzingeln nicht nur die großen Städte, sondern auch die mickrigsten Dörfer. Oft sind es so viele, daß man annehmen muß, es gibt für jede/n BewohnerIn einen. Neben der Landstraße, hoch droben in den Bergen versteckt oder mitten in der Stadt auf einem Kinderspielplatz: Überall lauert Hoxhas Geist. Mal glatzköpfig, mal mit grünem Toupet — aus der Ferne sehen die Bunker wie niedliche Betonköpfe aus, die Schießscharten als Augen. Was für ein geniales Denkmal! Eine vom Partisanenkampf inspirierte albanische Version der chinesischen Mauer.
Das ist Albanien!
Ein Nachmittag in Tirana, Hitze. Ich strolche allein durch die Hinterhöfe riesiger Mietshäuser, die in den sechziger Jahren von den Russen gebaut wurden. Auf einem großen Platz steht das Wrack eines bunten, motorbetriebenen Kinderkarussells. Daß es jemals funktioniert hat, ist schwer vorstellbar, denn die Einzelteile liegen wie nach einem Bombenangriff verstreut zwischen dem anderen Gerümpel, das den Hinterhof zur Müllhalde macht. Kinder spielen merkwürdig leise, ab und zu schaut eine Mutter herunter. An einigen Fenstern hängen Plastiktüten, weil die Scheiben fehlen. Ein junger Mann winkt. Wir führen ein hilfloses Gespräch ohne gemeinsame Sprache. Er fordert mich auf, ihm zu folgen. Plötzlich stehe ich in einem dunklen Treppenhaus. Aus dem freundlichen, jungen Mann wird ein finsterer Ganove. Er packt mich am Kragen, fragt, ob ich eine Pistole habe. Ich denke: Das ist ein Überfall! Vorsichtig nicke ich mit dem Kopf, was in Albanien nein bedeutet. Trotzdem packt mich der Unrasierte unangenehm, und seine Hand gleitet in die Innentasche meiner Karstadtlederjacke. Ich schwitze und denke: Oberflächlich bestätigt sich alles! Denke: Nachts wird in Tirana immer irgendwo geschossen, die Leute in den unteren Mietwohnungen leben alle mit Gittern an den Fenstern und Balkonen, die Ladenbesitzer schlafen zwischen ihren Tomaten, unser Auto verliert ständig irgendwelche Accessoires, und junge Studentinnen erzählen, daß sie sich abends nicht mehr auf die Straße trauen. Denke: Was wäre das alles herrliches Material für einen Fünfminutenbericht über Kriminalität im „Armenhaus“, im „Entwicklungsland“ Europas! Nichts gelogen und trotzdem nur ein weiterer Beitrag zur Zementierung des Mißverständnisses, Albanien sei eine Benetton-Reklame.
Der Ganove zieht wirklich an meiner Kamera, doch indem ich davon erzähle, verkommt das Geschehen ungewollt zur platten Anekdote. Andere Bilder, die bei uns ankommen, verzerren nicht nur unabsichtlich, wie beispielsweise dieses: An einem vergitterten Brotladen in Tirana wird „Buko Speziale“ verkauft, ein besonders beliebtes Brot. Deshalb hängt eine Menschentraube davor, obwohl es an diesem Tag überall und ohne Schlangen Brot zu festgesetzten niedrigen Preisen zu kaufen gibt. Als einige Jungs sehen, daß sie fotografiert werden, beginnen sie die Gesichter leidend zu verziehen, umklammern verzweifelt die Gitterstäbe — genauso wie auf dem spektakulären Foto, das ich in einer deutschen Illustrierten gesehen habe. Tatsächlich hat der Fotograf vor einigen Wochen genau hier an diesem Laden Hunger und Elend vollendet eingefangen, und wahrscheinlich waren schon viele seiner Kollegen hier. Deshalb kennen die Jungs auch die Ansprüche unserer Armutsästhetik und spielen unaufgefordert Statisten. Doch wie arm sind sie wirklich? Ich sehe die schrecklichen Kästen, in denen die Leute wohnen, das Kilo Äpfel für einen Tageslohn, die Kinder in den Klassenzimmern ohne Fensterscheiben, die froh sind, daß der Winter vorbei ist; ich sehe die Menschen, zusammengepfercht auf den Pritschen schmutziger Lastwagen, die verlassenen Stallungen der Kolchosen und die vielen zerstörten Fabriken. Doch all das ist nicht spektakulär und nur begrenzt fotogen; um wirklich etwas zu sehen, bräuchte ich albanische Augen. So sagt es mir mehr über deutsche Verhältnisse als über albanische. Was ist hier Wirklichkeit? Keine Ahnung. Astrit Ipro erzählt, daß seine Kinder im Winter sehr unter der Kälte gelitten haben. Das verstehe ich.
Armenhaus-Anekdote
Am Nachmittag in Tirana ist ein Ganove reichlich aufgeregt und nicht so cool wie seine Kollegen in Bari und New York. Überraschend mißlingt deshalb der Überfall. Ich verstehe: Er und ich sind nur Statisten im Dienste einer albanischen Armenhaus- Anekdote. Ich verstehe auch: Nichts ist hier, wie es nie war.
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