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Magnus Hirschfelds unpolitische Enkel

■ Den politischen Anspruch des Sexualreformers löst seine Zunft heute nicht ein. Trotz spannender Themen fehlten kontroverse Debatten.

Magnus Hirschfelds unpolitische Enkel Den politischen Anspruch des Sexualreformers löst seine Zunft heute nicht ein. Trotz spannender Themen fehlten kontroverse Debatten.

VON UTE SCHEUB

Sex interessiert alle, Sexualwissenschaft viel weniger. Obwohl die Veranstalter der derzeit in der Humboldt-Universität (HU) stattfindenden Tagung „Sexualität, Recht und Ethik“ vollmundig erklärten, damit werde Berlin „zum Zentrum des weltweiten sexualwissenschaftlichen Diskurses“, waren die Hörsäle nicht mal halbvoll. Auch die — zumeist männlichen — ReferentInnen aus West- und Osteuropa, den USA und China änderten daran nichts.

Dabei haben die Organisatoren — unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung — ein unterstützenswert klingendes Anliegen. Sie wollen an die Traditionen des jüdischen Arztes Magnus Hirschfeld anknüpfen, der in Berlin-Tiergarten von 1919 bis 1933 das weltweit erste sexualwissenschaftliche Institut betrieb. Hirschfeld gründete mit dem „Wissenschaftlich-Humanitären Komitee“ die erste Schwulenorganisation und engagierte sich für die Freigabe von Verhütungsmitteln und der Abtreibung. Als die Nazis sein Institut zerstörten, kehrte er, gerade auf einer Weltreise, nicht nach Deutschland zurück.

Den Anspruch auf gesellschaftliche Intervention zur Veränderung beklemmender und verklemmter Verhältnisse, wie ihn Hirschfeld hegte, scheinen seine Nachfahren jedoch aufgegeben zu haben. Trotz interessanter Themen — Menschenrechte und sexuelle Rechte, Homosexualität in China, Prostitution als Verquickung von Recht und Moral und anderes mehr — wirkt die Konferenz seltsam blutleer. Ohne Zusammenhang reiht sich ein Vortrag an den anderen. Kontroverse Podiumsdiskussionen etwa zum sexuellen Selbstbestimmungsrecht im vereinigten Deutschland oder zur Frage, ob derzeit eine weltweite Konterrevolution gegen die erkämpften Rechte von Frauen oder sexuellen Minderheiten stattfindet, gibt es nicht.

„Hirschfeld wurde aus Berlin in schändlicher Weise vertrieben, und wir haben ihn immer noch nicht zurückgeholt“, beklagte Prof. Karl- Friedrich Wessel, Leiter des Interdisziplinären Instituts für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik an der Humboldt-Uni, in seiner Eingangsrede. Doch es seien positive Ansätze zu vermelden, besonders große Verdienste habe sich Prof. Günter Dörner erworben.

Ein Glück, daß die Mitglieder der Berliner „Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft“ das nicht hörten, sie hätten sonst womöglich unter der Decke des ehrwürdigen Senatssaales geklebt, daß der umstrittene Ostberliner Hormonforscher Dörner in eine Linie mit Hirschfeld gestellt wird. Günter Dörner hatte anhand von Rattenexperimenten nachzuweisen versucht, daß Homosexualität hormonell bedingt sei — und damit Vorarbeiten für medizinische Eingriffe zur „Heilung“ von Pädophilen geliefert. Aber auch von jenem — inzwischen von Abwicklung bedrohten — Institut und seinem Forschungsprojekt „bio-psycho-soziale Einheit Mensch“ halten sie nicht eben viel, vor allem seit eine Gruppe von Professoren um Wessel und Dörner die Umsetzung ihrer langjährigen Idee blockiert. Sie und andere bundesdeutsche WissenschaftlerInnen wollten nämlich die Umstrukturierung der Humboldt-Universität zur Gründung eines „Instituts für Geschlechter- und Sexualforschung“ bei den Sozialwissenschaften nutzen — ebenfalls als Fortführung des Erbes von Hirschfeld.

Die Hirschfeld-Enkel also fechten's nicht besser aus, sondern streiten sich untereinander. Denn die Humboldt-Professoren halten einen rein sozialwissenschaftlichen Ansatz für die pure Katastrophe, während die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft umgekehrt „Biologismus“ wittert. Doch mit der neuen Universitätspräsidentin Marlis Dürkop könnten die verfeindeten Gruppen eine kompetente Vermittlerin und Instituts-Befürworterin gefunden haben, die gleichzeitig die feministischen Interessen in diesem männlich dominierten Wissenschaftszweig nicht vergißt. Die bestehenden Kontroversen, meinte sie in ihrer Begrüßungsrede, halte sie „nicht für ein Unglück, sondern für eine notwendige Auseinandersetzung“. „Aber“, so ihr zarter Wink zu Prof. Wessel, „ich kann nicht sehen, daß die Betrachtung des Menschen als bio-psycho-soziale Einheit und die sozialwissenschaftliche Orientierung der Geschlechterforschung einander ausschließen sollten.“ Mehr konnte und wollte die Noch-Abgeordnete des Bündnis90/Grüne nicht sagen, da sie erst am 22. Juli ihr Amt antritt.

Ein paar interessante Referate seien hier hervorgehoben. So rückte der Arzt und Philosoph Stephan Dressler die ethischen Probleme im Umgang mit dem HIV-Antikörpertest in den Mittelpunkt seines Vortrags. Der Test, so die These des jungen Mediziners, der im Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamtes arbeitet, stehe zu stark im Zentrum der Aids-Aufklärung. Er sei zu einer „Institution“ geworden, „die uns von bestimmten Verhaltensweisen entlastet“. An die Stelle der Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen sei ein „technisch-instrumenteller Umgang mit dem Testergebnis“ getreten. Der Test trenne in Positive und Negative, und ein negatives Testresultat stelle das persönliche Verhalten nicht in Frage, „das wird an die Positiven delegiert“. Sein Referat war ein Hinweis darauf, daß die Kritik an der „Testerei“ nun auch in offiziellen Institutionen Eingang gefunden hat. Denn was nützt ein Test, wenn man oder frau danach genauso lustig weiterliebt und die Spielregeln des „safer sex“ mißachtet? Auch die Annahme, daß HIV- Positive schon ihr Leben ändern würden, wird laut Dressler immer fragwürdiger. Er zitierte aus einer US-Zeitschrift, wonach „keine kontinuierliche Korrelation zwischen Testergebnis und Verhaltensänderung“ besteht. Sprich: Jedes Mitglied jeder Gruppe, ob bei Schwulen oder Schwangeren, verhält sich ganz unterschiedlich.

Der österreichische Sexologe Prof. Ernest Borneman plädierte leidenschaftlich für die umfassende Freigabe aller Pornografie und Erotika mit Ausnahme der gewaltverherrlichenden. Ansonsten beklagte er sich darüber, daß er in Deutschland nicht mehr auftreten könne, seit Zeitungen in Schlagzeilen wie „Verrückter Professor ruft zu Kindersex auf“ über ihn berichtet hätten.

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