: Koffer wuchten und Platz anbieten
■ Taz-Serie über Freud und Leid der schienengebundenen Pendler (7): Menschen mit Helferssyndrom brauchen die Bundesbahn - und umgekehrt
Koffer wuchten und Platz anbieten
taz-Serie über Freud und Leid der schienengebundenen Pendler (7):
Menschen mit Helfersyndrom brauchen die Bundesbahn — und umgekehrt
Wir schienengebundenen Pendler sind hilfsbereite Mitmenschen. Zumindest die älteren und mittelalterlichen von uns. Die jüngere Pendlergeneration dagegen verhält sich meist wie die Masse ihrer Altersgenossen: dumpf und ich-bezogen. Die merken irgendwie nicht, wenn einer alten Frau die Knie schlottern, weil sie seit einer halben Stunde im rumpelnden Nahverkehrszug stehen muß. Oder es ist ihnen egal.
Der menschlich korrekte Pendler dagegen — der mit dem Helfersyndrom — ist der Deutschen Bundesbahn immer wieder dankbar, denn die liefert ihm Stoff für seine Passion. Koffer aus dem Zug heben oder in das Gepäcknetz wuchten gehört ebenso zu den alltäglichen Übungen wie das selbstlose Anbieten des letzten Sitzplatzes. All das ist Bundesbahn-Alltag. Manchmal jedoch werden die Helfer-Pendler bis an ihre Belastungsgrenzen gefordert.
Wie neulich auf dem Altonaer Bahnhof. Zum Ferienbeginn glich einer der Bahnsteige einem Heerla-
1ger, Hunderte potentieller Reisender warteten auf den fahrplanmäßigen und von der Informationstafel angekündigten InterCityExpress (ICE) nach München. Etwa fünf Minuten vor der Abfahrt ertönte die Durchsage: „Der ICE nach München wird heute aus betrieblichen Gründen im Hauptbahnhof eingesetzt.“ Schock und Altonaer Pustekuchen. Nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt des wichtigen Zuges — und zwar einige Kilometer weiter östlich. Leichte Panik brach aus, dann erfolgte die rettende akustische Information: „Reisende, die den ICE nach München erreichen wollen, benutzen bitte bis zum Hauptbahnhof den Eilzug nach Bremen. Dieser Zug steht abfahrbereit.“ An einem anderen Bahnsteig natürlich.
Eine kleine Völkerwanderung mit Reisetaschen und Koffern begann. Einige Ältere und Alte konnten nur unter Einsatz geballter Pendlerkräfte auf den Weg gebracht werden. Die Deutsche Bundesbahn braucht uns eben. Jürgen Oetting
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