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Teleologie aus dem State-Department

Vulgärmaterialismus, Thymos, Megalothymia, Isothymia und einiges mehr Kritische Anmerkungen zu Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“  ■ Von Kurt Hübner

Der Zusammenbruch des realsozialistischen Lagers hat die politischen Strukturen des internationalen Systems tiefgreifend verändert. Erst allmählich wird den politischen Akteuren wie der Öffentlichkeit freilich richtig bewußt, daß auch die bis dahin gültigen politisch-ideologischen Weltbilder einer umfassenden Revision unterzogen werden müssen, wenn die alten Koordinatensysteme die angemessene Verortung in der Gegenwart nicht länger gewährleisten. In solchen von Orientierungsnöten gekennzeichneten Umbruchsituationen ist die Empfänglichkeit für komplexitätsreduzierende „Reiseführer“ besonders ausgeprägt. Ein solcher Führer wurde von Francis Fukuyama vorgelegt: Stellte er seinem im Sommer 1989 in der Zeitschrift The National Interest veröffentlichen Essay „The End of History?“ noch ein Fragezeichen dazu, so verzichtet der jüngst in deutscher Sprache erschienene, auf 500 Seiten aufgeblasene Führer durch die Zukunft auf jeglichen fragenden Beiklang: Der Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften, so der stellvertretende Direktor des Planungsstabs im US-amerikanischen Außenministerium Fukuyama, markiere den Höhepunkt eines weltgeschichtlichen Prozesses, der unweigerlich dazu führe, daß die liberale Demokratie in Verbindung mit der kapitalistischen Marktwirtschaft den Endpunkt der ideologischen Evolution und die endgültige menschliche Regierungs- und Wirtschaftsform darstellten. Der publizistische Erfolg dieser spekulativen Geschichtsinterpretation ist einigermaßen paradox. Gerade hat eine politische Bewegung, die den Geschichtstelos auf ihre Banner gesetzt und in ihre Staatsdoktrin eingeschrieben hat, einen grandiosen Schriffbruch erlitten, da findet eine Geschichtsinterpretation Beifall, die schon fast wieder bewundernswert unverfroren auf das identische Prinzip einer Zielgerichtetheit von Geschichte setzt. Sollte der Beifall etwa allein daher rühren, daß in Fukuyamas Fall das geschichtliche Endziel — Kapitalismus und liberale Demokratie — heute politisch-moralisch höher bewertet wird als die vom ML-Marxismus mühsam exegetisch behauptete Gerichtetheit der menschlichen Entwicklung in Gestalt eines gesetzten sozialistischen beziehungsweise kommunistischen Endpunktes?

Fukuyama stellt zwei große Argumentationsblöcke vor, deren Kombination sowohl die Gerichtetheit des geschichtlichen Prozesses als auch den Endpunkt liberaler Demokratie in Kombination mit kapitalistischer Marktwirtschaft erklären und begründen soll. Der erste Block läßt sich als eine Art (vulgär-)materialistische Interpretation von Geschichte bezeichnen, bei der ökonomische Mechanismen und insbesondere die rationalitätsstiftende Rolle der modernen Naturwissenschaften, die nach dem Prinzip kumulativen und zielgerichteten Erkenntniszuwachses organisiert seien, die prominenteste Rolle spielen.

Die modernen Naturwissenschaften, bei Fukuyama offensichtlich eine Umschreibung des Produktivkraftsystems Arbeit-Technik-Wissenschaft, beförderten in den verschiedensten Ökonomien Modernisierungsprozesse, die homogenisierende Wirkungen zeitigten: Die Ökonomien würden weltweit einander in quantitativer wie insbesondere qualitativer Hinsicht immer ähnlicher werden. Japan und die südostasiatischen „vier Tiger“ müssen, wie übrigens immer im Zusammenhang mit success stories nachholender kapitalistischer Entwicklung, als Belege herhalten. Unberührt von allen entwicklungstheoretisch breit diskutierten ökonomischen, sozialen und ökologischen Grenzen einer imitativen, nachholenden kapitalistischen Entwicklung und völlig die — analytisch zentrale — Frage aussparend, wie viele Taiwans, Südkoreas et cetera die kapitalistische Weltwirtschaft verkraften kann, wird von Fukuyama ein ökonomischer Geschichtsoptimismus zelebriert, der es sich leisten zu können meint, die empirische Faktenlage im Zeitablauf sich differenzierender Kapitalismen einfach zu übergehen.

Hätte Fukuyama sich der Mühen des Begriffs wie der Mühen einer einigermaßen handwerklich zufriedenstellenden Empirie unterzogen, wäre ihm aufgegangen, daß unter dem Signum liberaler Wirtschaftskapitalismus sich die unterschiedlichsten Akkumulationsmodelle verbergen, die sich nicht allein hinsichtlich der Bedeutung und Funktion von Einrichtungen wie Märkten, Geld, Staat und Lohnarbeit stark voneinander unterscheiden, sondern darüber hinaus auch noch in einer Beziehung der Abhängigkeit und Unterordnung zueinander stehen. Freilich hätte in diesem Falle sein Argument Schaden genommen, hätte er sich doch dann redlicherweise auch mit dem empirischen Tatbestand auseinandersetzen müssen, daß allen naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnen und allen ökonomischen Modernisierungsprozessen zum Trotz die Spaltung der Weltwirtschaft in Haves und Have-nots nicht etwa überwunden werden konnte, sondern sich in den letzten einhundert Jahren verfestigt hat. Empirisch ähnlich freihändig, wenn auch nicht ganz so beliebig liest sich auch die weitere Behauptung eines historisch weltweiten Trends zur liberalen Demokratie. Sicherlich hat Fukuyama mit seiner Behauptung recht, daß zwischen 1790 und 1990 die Zahl demokratisch verfaßter Länder zugenommen hat. Seine tabellarische Auflistung wirft jedoch die Frage auf, ob überhaupt substantielle Bedingungen erfüllt sein müssen, damit der Autor eine Gesellschaft als demokratisch bezeichnen darf. Die Aufnahme von Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien, Türkei, Bolivien, Peru, Sükorea, Thailand auf die Liste demokratischer Gesellschaft ist mindestens begründungswürdig.

Selbst dann, wenn man diese Liste akzeptierte, gilt es zu konstatieren, daß gerade einmal ein Drittel der Staaten der Welt und ein noch viel kleinerer Prozentsatz der Weltbevölkerung in Fukuyamas großzügig definierten demokratischen Gesellschaften leben. Was nicht ist, kann nicht nur, nein: muß noch werden. Freilich begeht Fukuyama nicht den naheliegenden Fehler vieler moderner Feuilleton-Theoretiker, Kapitalismus und liberale Demokratie als gleichsam siamesische Zwillinge zu analysieren. Vielmehr weist er ausdrücklich darauf hin, daß es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft und liberaler Demokratie gibt; tatsächlich könne der Kapitalismus im Zweifelsfall viel besser seitens autoritärer politischer Systeme gefördert werden.

Diese fundamentale und empirisch wie theoretisch gesättigte Einsicht bleibt für Fukuyama freilich weitgehend folgenlos. Anstelle die Konfliktlinien zwischen liberaler Demokratie und kapitalistischer Markt- und Geldwirtschaft analytisch auszuloten, setzt er alles daran, seine teleologische Kernthese doch noch zu retten. Das von Fukuyama unter Rückgriff auf so unterschiedliche Denker wie Platon, Hegel, Nietzsche und andere eingebrachte „Konzept des menschlichen Strebens nach Anerkennung“ (Thymos) ist das missing link, welches das Argument tragen helfen soll. Der thymotische Stolz der Menschen auf ihren Selbstwert sei es, der sie dazu bringe, sich gegen autoritäre und antiindividualistische Systeme zur Wehr zu setzen und nach demokratischen Regierungen zu streben, die die Autonomie freier Individuen zum politischen Organisations- und Herrschaftsprinzip machen. Die diesem Konzept gewidmeten restlichen zwei Drittel des Buches verzichten, von einigen illustrativen Verweisen abgesehen, völlig auf die bis dahin bemühte Realgeschichte und wenden sich einer geschichtsphilosophischen Abhandlung zu, deren alleiniger Zweck darin besteht, als eine Art argumentativ-begrifflicher Lückenfüller zu dienen, um das bedenklich schwach begründete Kernargument doch noch irgendwie zu retten.

Der geneigte Leser hat eine philosophisch-politologische Dr.-Jekyl- &-Mr.-Hyde-Interpretation des menschlichen Charakters in Gestalt der Megalothymia und der Isothymia als widerstreitende Ausprägungen des menschlich allgemeinen Verlangens nach Anerkennung über sich ergehen zu lassen, die in Maßen noch als amüsant goutiert werden könnte, wenn es dem Autor nicht so fürchterlich ernst wäre mit dem, was er alles so zu entdecken glaubt.Angesichts des von Seite zu Seite dunkler werdenden Argumentationszusammenhangs kann es fast nicht erstaunen, wenn schließlich auch der Autor die Orientierung verliert: Im letzten Absatz der letzten Textseite vernimmt man, daß der Autor von seiner Behauptung eines Endes der Geschichte selbst nicht mehr überzeugt ist, vielmehr darüber rätselt, ob der thymotisch geladene Mensch sich mit der Verwirklichung von liberaler Demokratie und kapitalistischer Marktwirtschaft tatsächlich zufrieden geben könnte.

Im Vorwort dankt Francis Fukuyama seinem word processor für seine unersetzlichen Dienste. Vielleicht sollte dieses Dankeswort noch einmal überdacht werden, könnte das famose Gerät doch einige Textbausteine so durcheinander gewirbelt haben, daß selbst ein welthistorischer Universalist aus dem Planungsstab des US-Außenministeriums sich nicht mehr in der Lage sah, Stringenz zu beweisen.

Francis Fukuyama: „Das Ende der Geschichte“, Kindler-Verlag München, 42 DM

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