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Atomindustrie weltweit in der Krise

Installierte Kapazitäten gehen erstmals zurück/ Der Optimismus der Industrie ist lediglich Rhetorik  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) — Die internationale Atomindustrie befindet sich auf dem absteigenden Ast. Darüber könne laut einer neuen Studie des renommierten US-amerikanischen Worldwatch-Instituts trotz aller Aufschwung-Rhetorik kein Zweifel sein. Im Jahr 1992 wird die installierte Kapazität an Atomkraft erstmals seit dem Beginn der Atomenergienutzung in den fünfziger Jahren zurückgehen. Seit 1989 geht die Zahl der kommerziell betriebenen Reaktoren zurück und 1990 war das erste Jahr, in dem überhaupt kein Reaktorbau begonnen wurde.

Die Industrie selbst spricht allerdings seit Jahren vom Aufschwung: Der Ersatz fossiler Energien soll der Atomkraft einen neuen Boom bescheren: „Mit Atomkraft aus dem Treibhaus“, so lautet der Slogan weltweit. Der Blick auf die Zahlen neu bestellter Atommeiler zeigt jedoch, daß die Aufschwungshoffnungen nicht mehr als ein ängstliches Pfeifen im Wald sind. Derzeit sind weltweit 49 Reaktoren in Bau. Vor zehn Jahren waren es fast 200.

Es gibt praktisch weder neue Aufträge, noch Akzeptanz — dafür aber vollmundiges Reden von exorbitanten Ausbauprogrammen: Sollen die Kohlendioxid-Emmissionen um nur fünf Prozent gesenkt werden, sei eine Verdoppelung der weltweit 400 Atommeiler nötig, so heißt es. Geschätzte Kosten dieses Unternehmens: 1.000.000.000.000 Dollar.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien, einst zur weltweiten Förderung der Atomkraft gegründet, macht noch in Optimismus. Für die Wiener Hüter des atomaren Grals sind genau 76 Reaktoren in Bau. Doch die Zahlen der Wiener sind „arg fehlerhaft“, meint das Worldwatch-Institut. So seien laut IAEA beispielsweise zwei iranische AKWs „in Bau“, obwohl an ihnen seit 1979 kein Handschlag mehr getan worden ist.

Auch an den meisten Reaktorprojekten in der ehemaligen Sowjetunion — in Wien mitgezählt — werde nicht mehr gearbeitet. Die bislang 8.000 Toten von Tschernobyl und die Demokratisierung haben diese Projekte einfach untragbar gemacht. Nach Angaben des Chefsprechers des russischen Energieministeriums, Anatoli Zemkow, waren Anfang 1992 nur noch zwei Atomkraftwerke zur Stromproduktion und zwei zur Wärmeproduktion in Bau.

Die Autoren der Worldwatch- Studie, die mit Greenpeace und dem World Information Service on Energy (WISE) zusammengearbeitet haben, beschränken sich nicht auf eine Gesamtschau. Sie zeigen von Kanada bis Südafrika, daß die Atomkraft auf dem Rückzug ist. Das klassische Beispiel sind die Vereinigten Staaten. Dort ist seit 14 Jahren kein neues AKW mehr bestellt worden. Das letzte Projekt, daß nicht im nachhinein gestoppt wurde, stammt aus dem Jahr 1973. In den USA laufen derzeit 110 Atommeiler.

Der japanischen Regierung ist es in den vergangenen fünf Jahren nicht gelungen, neue Atomkraftwerks- Standorte auf den erdbebengeschüttelten Inseln zu finden. Auch in Europa ist die Atomkraft in der Krise: Frankreich plant seit 1987 keine neuen Atommeiler mehr, sechs sind noch in Bau. Lediglich Großbritannien plant als einziges Land in Westeuropa noch ein AKW. Als die britische Regierung die Stromindustrie im vergangenen Jahr privatisierte, wollte jedoch niemand die Atommeiler haben. Das Risiko war privaten Investoren zu groß, die Regierung blieb auf ihren Meilern sitzen. Die Autoren der Studie bemerken ironisch: „Bislang hat die Privatindustrie nicht auf das Treibhaus-Argument reagiert.“

Und die Privatindustrie hat ökonomische Argumente auf ihrer Seite: Moderne Gas- und Dampfkraftwerke erzeugen in den USA Strom für umgerechnet zehn Pfennig pro Kilowattstunde. Wind- und Geothermik liegen zwischen 10 und 15 Pfennigen, der neue Atomstrom jedoch bei 18 Pfennigen. Die britische Stromindustrie hat nach der Privatisierung sofort reagiert: Geordert werden nur noch Gaskraftwerke und erneuerbare Energien.

Mitte der achtziger Jahre analysierte der Harvard-Soziologe John Campell beim Vergleich verschiedener Industriestaaten, die Atomkraft brauche vor allem eine stabile politische Rückendeckung zum Überleben. Dafür sind die Aussichten in Zeiten des Wandels schlecht.

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