: Milliardenerbsenzählen
■ Die Treuhand wird zum Jahresende 135 Milliarden oder ein paar mehr Schulden haben
Milliardenerbsenzählen Die Treuhand wird zum Jahresende 135 Milliarden oder ein paar mehr Schulden haben
Anfang der achtziger Jahre hatten sich friedliebende Bürgerinnen und Bürger in eine der Lieblingssportarten der Militärs eingearbeitet: das Raketenzählen, verächtlich auch Erbsenzählen genannt. Die Bedrohung käme aus dem Osten, war die offizielle Version, Fenster der Bedrohung müßten geschlossen werden, und daher bräuchte es neue Atomraketen. Das gemeine Volk, so die Experten weiter, verstünde ohnehin nichts von den Höhen militärischer Strategie.
Wir ließen uns damals nicht beeindrucken, kämpften uns unverdrossen durch immer neue Bedrohungsanalysen und stellten bald fest: Die da Experten waren, kalkulierten uns als arme Opfer stillschweigend ein. Das war lehrreich, die Nutzanwendung in anderen Politikbereichen unmittelbar.
Jetzt scheint es an der Zeit, das Konzept auch einmal in der Finanzpolitik anzuwenden. Besorgte Bürgerinnen und Bürger sollten beginnen, Milliarden zu zählen. Die Milliarden nämlich, die in den diversen Neben- und Schattenhaushalten der deutschen Einheit hin- und hergeschoben werden und bei denen nur allzuleicht der Überblick verloren geht. Wir wissen zwar nicht, wohin das Geld so geht, aber als Opfer sind wir wiederum einkalkuliert. In der offiziellen Version — wir kennen das schon — kommt die Bedrohung aus dem Osten. Im Osten sitzt die Treuhand, da sitzen unbekannte Ost- Landesregierungen und die gefährlichen und geldgierigen Ossis an sich. Und das westliche Bundesfinanzministerium ist dann unser Bollwerk, es achtet sorgfältig auf mögliche Fenster der Verwundbarkeit: Die Staatsverschuldung darf nicht über die Maßen ansteigen. Doch genau wie damals ist die Verteidigungsstrategie unseres Bollwerks zweifelhaft. Die aufgetürmten Schuldenberge sollen nämlich nur nicht im offiziellen Haushalt auftauchen und so die schönen Zahlen vermiesen. Die Bedrohung ist ein Ergebnis unserer westlichen vereinigungswütigen Politikerkaste. Sie hat vor unseren Augen die Kosten der Einheit heruntergerechnet, den Souverän verarscht.
Eine Bedrohungsanalyse der neuesten Milliardenzählerei aus der Treuhand zeigt das hervorragend: Im Vereinigungsvertrag ist von den „Gewinnen“ beim Verkauf des DDR-Staatsvermögens die Rede. Doch Ende 1992 wird die Treuhand 135 Milliarden Mark Schulden angehäuft haben, Ende 1994 sollen es 250 Milliarden sein. Schon jetzt häufen sich die Zinsen und die Zinseszinsen und die...
Hier hört die Analogie dann auf. „Unsere Raketen“ konnten auch bei uns einschlagen. Unsere Schulden, ob wir sie nun als solche erkannt haben oder nicht, werden sich mit Sicherheit im Portemonnaie von dir und mir niederschlagen. Die Kosten der Einheit sind in jedem Falle niedriger als die Kosten der Inkompetenz. Hermann-Josef Tenhagen
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