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Sphinx aus Minsk gegen Muskel aus Amerika

Heute abend kämpfen die rivalisierenden Turn-Koryphäen Swetlana Boginskaja (GUS) und Kim Zmeskal (USA) um die Krone im Mehrkampf: Die Diva mit dem dramatischen Gesicht gegen das hüpfende Kraftpaket, Ästhetik gegen Sprungkraft  ■ Aus Barcelona Michaela Schießl

Mein Gott, was haben wir uns erschrocken. Um ein Haar wäre eines der ganz großen olympischen Duelle geplatzt. In Barcelona wollten die Rivalinnen ein für alle Mal klären, wer die Mehrkampf-Frau im Haus ist: Die grazile Turn-Altmeisterin Swetlana Boginskaja oder die Weltmeisterin Kim Zmeskal — die „Sphinx aus Minsk“ (Sports Illustrated) gegen den Muskel aus Amerika.

Der Muskel jedoch war zu sehr gespannt: „Ich hatte einfach zu viel Power“, erklärte die 16jährige Kim Zmeskal, Shooting-Star der Welttitelkämpfe in Indianapolis 1991 (Gold im Mehrkampf) das Debakel. In der ersten Pflicht-Übung im Mannschaftswettbewerb am Sonntag überdrehte das 1,38 Meter winzige Kraftpaket und fiel vom Schwebebalken — eine halbe Note Abzug, kollektiver Herzstillstand im Palau Sant Jordi. „Kaum aufzuholen“, urteilte sogar der rumänische Berufsoptimist und Zmeskal-Coach Bela Karoly, der einst die Rumänin Nadia Comaneci und, nach seiner Emigration in die USA, Mary-Lou Retton zu olympischen Höhenflügen trieb. Das große Kräftemessen schien auszufallen. Denn nur die drei Bestplazierten jeder Frauschaft qualifizierten sich für den heute stattfindenden Kampf um die Krone, den Einzel-Achtkampf.

Zmeskal jedoch behielt die Nerven. „Unter Druck werde ich erst richtig gut“, sagte sie nach dem Kürdurchgang am Dienstag abend, wo sie das Unmögliche schaffte: Sie überflügelte ihre beiden US-Kolleginnen Dominique Dawes und Kerri Strug, sprang und schnörkelte sich von Platz fünf auf Platz drei — der Showdown war gerettet. Boginskaja, die bereits ein dünnes Siegerinnenlächeln aufgesetzt hatte, nahm es wieder ab. Zwar gewann sie vor Rumänien (2) und den USA (3) Gold mit ihrem GUS-Team, doch das ist nur Vorgeplänkel im Kampf der Königinnen.

Erst heute gegen Mitternacht wird das Lächeln neu vergeben. Boginskaja, mit 1,62 Meter die Größte in ihrem Team, ist die Meisterin des Ausdrucks. Wenn sie die Matte betritt, wirkt sie wie ein Wesen aus einer mystischen Welt, wo Zauberer und Elfen zur Tagesordnung gehören. Ein Hauch von Marlene Dietrich umgibt sie. Wie eine Diva tritt die 19jährige mit dem dramatischen Gesicht ans Gerät. Und irgendwie erscheinen ihre Übungen langsamer zu sein, zeitloser als die der anderen. Boginskaja turnt, als träume sie, schwerelos und schlafwandlerisch sicher. Sie erzählt Geschichten in ihren Küren, Dramen, wie sie eben nur Russinnen erzählen können.

Dagegen wirken die kraftvollen Darbietungen der Zmeskal geradezu gewalttätig. Wenn die Bodenweltmeisterin 1992 sich auf die lange Diagonale zubewegt, kann man sich auf eine Sprungkombination wie aus dem Maschinengewehr gefaßt machen. Wie ein Ausrufezeichen steht sie in der Ecke, hoppla, jetzt komm, ich. Dann läuft sie an, und macht, was keiner außer ihr kann: drei gestreckte Salti rückwärts, ein Flickflack, gehockter Doppelsalto, alles in Reihenschaltung. Nur gelegentlich berührt sie noch den Boden, und dann steht sie, wie ein angewurzelter Dreikäsehoch, und lacht.

Boginskaja und Zmeskal, zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. „Kimbo“ Zmeskal ist die Inkarnation des Selbstvertrauens: kraftvoll, entschlossen und ungeheuer stark, wenn es drauf ankommt — ein robuster, einfach strukturierter Charakter. Dagegen steht die hochsensible Diva, mit der zu arbeiten es schon immer eines besonderen Feingefühls bedurfte. Lyubov Miromanova, die Swetlana seit derem sechsten Lebensjahr trainierte, hatte es. Sie führte die 15jährige in Seoul zu zwei Goldmedaillen (Sprung und Mannschaft), eine silberne (Boden) und eine bronzene (Mehrkampf). Doch aus der Siegesfeier wurde ein Trauerspiel. Einen Tag nach der Rückkehr aus Südkorea erhängte sich Miromanova. Der Grund dafür ist bis heute unbekannt. Und bis heute spricht Swetlana Boginskaja kein Wort darüber. „Aus irgendeinem Grund fühlt sie sich schuldig“, glaubt ihr Coach Alexandr Aleksandrov.

Kaum konnte Boginskaja mit diesem Drama leidlich leben, brach die Sowjetunion zusammen. Die entrückte Sphinx mußte sich plötzlich mit Existenzsorgen plagen. Sie nahm es als Motivation: „Wenn ich hier in Barcelona gut abschneide, bekomme ich vielleicht im Ausland einen Trainer-Vertrag.“ Hinzu kommt das Motiv Rache: „Wären die Weltmeisterschaften statt in den USA in Europa gewesen, hätte ich gewonnen“, unterstellt sie Schiebung zugunsten Zmeskals. Und auch mit deren Trainer Karoly („Swetlana war eine schöne Meisterin, aber ihre Zeit ist um“) hat sie eine Rechnung offen. „Ich glaube nicht, daß Kim Zmeskal gut genug ist, meine Ära zu beenden.“ Die Positionen sind bezogen, der Kampf der Königinnen kann beginnen.

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