: Im Flug von Moskau nach Moabit
■ Ein Gerücht wird Wirklichkeit: Erich Honecker kehrte gestern nach Deutschland zurück/ Am Abend mußte er seinen Zufluchtsort in der chilenischen Botschaft in Moskau verlassen
Berlin (taz/dpa/AFP) — Wenn die Maschine nicht abgestürzt ist, dann landete Erich Honecker gestern abend gegen 22.00 Uhr auf dem Flughafen Berlin-Tegel. Den ganzen Tag lang hatten Politiker, Journalisten und Diplomaten in Bonn, Moskau und Berlin über eine kurz bevorstehende Rückkehr des DDR-Staatsratsvorsitzenden spekuliert. Abends stand fest: Er kommt — und zwar noch gestern.
Um 16.33 Uhr MEZ hatte Honecker die chilenische Botschaft in Moskau verlassen müssen. Danach wurde die Kolonne mit dem Wagen von Honecker von mehreren Journalistenautos verfolgt. Dabei verlor einer der Sicherheitsbeamten die Kontrolle über sein Fahrzeug, das sich überschlug. Unklar blieb zunächst, ob es bei dem Unfall Verletzte gegeben hat.
Die Frau des früheren DDR- Staatschefs, Margot Honecker, befand sich nach Augenzeugenberichten nicht im Wagen ihres Mannes. Honecker fuhr im dunkelblauen Volvo des chilenischen Botschafters, bekleidet mit einem dunklen Anzug. Rund 100 Menschen hatten sich bei der Abreise vor der Botschaft versammelt — Honecker saß schweigend in der Staatskarosse und blickte starr geradeaus.
Eine Gruppe von Sicherheitskräften des Innenministeriums hatte ihn auf dem Weg zum Flughafen begleitet. Um 18.00 Uhr MEZ hob das russische Sonderflugzeug mit Honecker an Bord vom Moskauer Flughafen Wnukowo nach Berlin ab. Um dieselbe Zeit setzten sich Dutzende von Kamerateams nach Berlin-Tegel in Bewegung. Die Flughafenleitung in Tegel, die Polizei und Justiz in Berlin erklärten unisono: Wir sind auf alles vorbereitet.
Honecker hatte 17 Monate lang als Botschaftsflüchtling mit seiner Frau Margot in der chilenischen Botschaft verbracht. Immer wieder hatte das Ehepaar sich bemüht, in ein Drittland auszureisen. Doch weder Nordkorea noch Chile oder China waren bereit, die Honeckers aufzunehmen. Gestern einigten sich die Behörden Rußlands und Chiles endgültig darauf, Honecker abzuschieben. Zwischen den beiden Ländern war bis zuletzt strittig gewesen, ob Honecker vor seiner Abschiebung ein Anhörung- und Beschwerderecht in Rußland habe. Die Russen hatten das verneint, weil Erich H. sich ihrer Ansicht nach illegal in Moskau aufgehalten hatte.
Die Rückkehr Honeckers war in den vergangenen Wochen fast täglich von Zeitungen und Agenturen prophezeit worden. Jetzt, als die Entscheidung schon gefallen schien, wollte man sich in Bonn gestern mittag noch nicht festlegen lassen. „Kräht der Hahn auf dem Mist, kommt der Honecker wieder, oder er bleibt, wo er ist!“ witzelte Regierungssprecher Vogel noch. Auch nach Bekanntwerden hektischer Aktivitäten auf dem Botschaftsgelände in Moskau — mehrere Autos waren am Nachmittag vorgefahren, Polizisten hatten das Gelände gesichert — wollte die Bundesregierung keine präzise Auskunft geben. Man müsse erst die Ergebnisse der Gespräche zwischen Chile und Rußland abwarten, hieß es.
Der Ablaufplan für Honeckers Landung auf deutschem Boden steht längst fest. Gegen Erich H. liegen zwei Haftbefehle vor, der Altkommunist würde sofort verhaftet und in das Haftkrankenhaus Moabit überführt werden. Dort soll er ausgiebig auf seine Haftfähigkeit untersucht werden. Ob Erich Honecker dem Haftrichter in Handschellen vorgeführt wird, liegt im Ermessen der Polizei.
Was passiert, wenn Erich landet?
Je nachdem, ob der Haftbefehl außer Kraft gesetzt wird oder nicht, wird der einstige SED-Vorsitzende dann in das Untersuchungsgefängnis Moabit gebracht werden oder privat unterkommen. In Moabit säße Honecker mit alten Genossen zusammen: Dort warten auch der Ex-Ministerpräsident Willi Stoph und Ex- Verteidigungsminister Heinz Keßler auf ihren Prozeß. Vor allem Erich Mielke dürfte sich über die Rückkehr seines Genossen freuen. „Der sitzt in Moskau, und ich soll den ganzen Kram hier ausbaden!“ hatte sich der Ex-Stasi-Chef schon vor einigen Monaten geärgert.
Gerüchte, Honecker habe längst die Zusage, in Deutschland nicht hinter Gitter zu müssen, werden von der Berliner Justiz scharf dementiert. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, daß der Angeklagte gegen Auflagen auf freien Fuß kommt. Honecker müßte sich dann regelmäßig beim Richter oder einer Polizeidienststelle melden. Außerdem müßte er seinen blauen Paß abgeben und eine Kaution hinterlegen.
Wo Honecker in Deutschland leben wird, ist eines der bestgehüteten Geheimnisse seines Anwalts und der Bundesregierung. Die Gemeinde Neunskirchen im Saarland — Honeckers Geburtsort —, die den DDR-Staatschef vor einigen Jahren noch jubelnd begrüßt hatte, will den verlorenen Sohn nur ungern aufnehmen. Nach Angaben des Ortsvorstehers gehen bei ihm regelmäßig Drohbriefe ein. In Neunskirchen lebt Honeckers Schwester. Der Pastor Uwe Holmer aus Lobethal, der das Ehepaar Honecker bereits 1990 aufgenommen hatte, steht als Herbergsvater aber offenbar wieder zur Verfügung.
Der Prozeß gegen das einstige Staatsoberhaupt wird nach Angaben aus Justizkreisen vermutlich im Herbst eröffnet werden. Die Anklageschrift umfaßt 800 Seiten. Honecker wird in 49 Fällen gemeinschaftlicher Totschlag und 25mal versuchter Totschlag vorgeworfen. Außerdem wurde Honecker wegen des Verdachts der Untreue und des Vertrauensmißbrauchs angeklagt.
Gegen Honeckers Frau Margot liegt kein Haftbefehl vor. Ob sie ihren greisen Gemahl in die unfreundliche Heimat begleiten will, war noch unklar. Gegen Margot Honecker wird lediglich die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit Zwangsadoptionen in der DDR geprüft. Frau Honecker war Volksbildungsministerin der DDR. Gerüchten zufolge soll die Berliner Polizei ihr eine sichere Unterkunft angeboten haben. ccm
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